饮食 | Ernährung oder Nutrition (spätlat. nutritio „Ernährung“, lat. nutrire „nähren“) ist die Aufnahme von organischen und anorganischen Stoffen, die in der Nahrung in fester, flüssiger, gasförmiger oder gelöster Form vorliegen können. Mit Hilfe dieser Stoffe wird die Körpersubstanz aufgebaut oder erneuert und der für alle Lebensvorgänge notwendige Energiebedarf gedeckt.
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Schon oft dachte ich mir, daß in China nicht Religion, sondern die Ernährung Opium fürs Volk ist. Wie sonst ist es verständlich, daß Menschen in verschmutzten und sowohl im Winter wie auch im Sommer unangenehmen Städten wie Beijing ihr karges Dasein trotz aller Widrigkeiten fristen? Das Leben kann noch so unerbitterlich sein, drei wunderbare Mahlzeiten bringen einen durch den Tag und lassen den Menschen selbst unter trostlosen Bedingungen sich auf den nächsten freuen. Lin Yutang bestätigt dies indem er schreibt „wenn wir zu irgendetwas eine ernsthafte Einstellung besitzen, so ist es weder Religion noch Studium, sondern Essen. Wir gestehen offen ein, daß uns Essen eine der wenigen Freuden dieses menschlichen Daseins ist.“[i] Auch heute Abend bin ich in einem versieften hutong des Pekinger Xicheng Bezirkes auf eine wunderbare Spezialität in einem kleinen Restaurant für Hausmannskost 家常菜 | jiachangcai gestossen. Ein Gericht namens 干锅土豆粉| ganguo tudoufen, also wortwörtlich Trockentopfkartoffelnudeln, ließ mich für einen Moment meine durchaus langbestehende Aversion zur chinesischen Hauptstadt vergessen. Gangguo Gerichte werden üblicherweise in einem konkaven Topf serviert, welcher auf einer Warmhalteflamme steht, die den Inhalt am langsamen Brutzeln hält. 干锅家常豆腐 | ganguo jiachang doufu Trockentopf Hausmannstofu ist eines meiner Lieblingsgerichte. Das heutige Gericht verzauberte jedoch meinen Gaumen mit Nudeln, welche aus Kartoffelstärke gemacht wurden und in zugegebenermaßen Unmengen an Öl gemischt mit Zwiebeln, grünen Paprika, roten Chillischoten, ganzen Knoblauchzehen und einigen wenigen fetten Stücken Rindfleisch vor sich hinschmorten. Als Salatersatz hatte ich ein kaltes Vorspeisengericht, welches auf chinesischen Speisekarten unter der Kategorie凉菜 liangcai zu finden ist. Meine klassische Wahl wurde auch heute mit vollster Zufriedenheit belohnt: ein köstlicher in Essig marinierter und mit gerösteten Erdnüssen versetzter Blattspinat 凉拌菠菜花生 | liangban bocaihuasheng rundete das Abendmahl perfekt ab. Ohne Zweifel. Nahrung ist die Religion der Chinesen. Nichts anderes geht ihnen so an die Nieren, nichts anderes ist ihnen so wichtig wie Essen. Nicht umsonst grüßen sich Landsleute nicht mit „Wie geht’s dir?“ sondern mit „Hast du schon gegessen? 吃饭了吗? | Chifanlema?“ Nicht umsonst wird der Essensrhythmus der Chinesen mit der Pünktlichkeit der Schweizer verglichen. Während den Schweizern nachgesagt wird, daß sie für Termine und Treffen immer auf die Minute genau sind, weiß ich von den Chinesen, daß ihr Magen immer auf die Minute genau um 12 Uhr mittags etwas zu essen will. Einer der größten Fehler, den man als Ausländer machen kann, ist meetings zu überziehen und damit den Essensrhythmus seines Gesprächspartners ins Ungleichgewicht zu bringen. Lin Yutang kommt zu viel tiefergreifenden Schlüssen. „Die erste Lektion um Essen zu lernen, ist darüber reden zu lernen.“[ii] Er legt auch eine Korrelation zwischen Essen und Poesie nahe. So schreibt er: „Die Chinesen schreiben gute Poesie, weil sie mit ihren Gedärmen denken.“[iii] Und an anderer Stelle: „Ein auffallender Umstand ist die Frequenz mit welcher Begriffe wie Gedärm und Bauch in chinesischer Poesie auftauchen.“[iv] Dies stellt wiederum eine Eigenart der chinesischen Küche dar, mit der ich mich nie anfreunden werde. Innereien sind nicht nur erwiesenermaßen ungesund, sie sind in meinen Augen auch widerlich, wenngleich ich zugestehe, daß mit Innereien wie Leber oder Niere sehr einschlägige Geschmäcker erzeugt werden, die mit rein vegetarischen oder „schlichten“ Fleischzutaten nicht zu erreichen sind. Für Chinesen ist jedoch der Geschmack, der in der westlichen Küche sicherlich einsam auf weiter Flur herrscht, nicht das einzige Kriterium für ein gelungenes Gericht. Nach dem Geschmack kommt mit sicherem Abstand für den westlichen Gourmet das Auge als zweites Sinnesorgan ins Spiel, während für den Chinesen es meiner Ansicht nach die Zähne sind, welche die Zähigkeit, Knusprigkeit, Flachsigkeit eines Gerichtes auf die Probe stellen. Es ist anders nicht zu erklären, warum die chinesische Küche unzählige Arten von Tofu kennt, die allesamt in natürlichem Zustand gleich schmecken, aber jeweils eine unterschiedliche Textur aufweisen. Schwammiges 水豆腐| shuidoufu, lederhäutiges 豆腐干| doufugan, weichgekochtes 日本豆腐 | ribendoufu, welches innen auf der Zunge zerfließt, aber außen durch ein leicht knusprige Außenhaut in Kontur gehalten wird. Die Vorliebe für die Textur von Nahrungsmitteln erklärt die Vorliebe für Innereien, Knochen, Hälsen und Knorpeln, welche bei den chinesischen Landsleuten ungemein ausgeprägt ist. Die auf den Schneidezähnen knackenden, gekochten Hühnerkrallen lösen bei mir bestenfalls einen Brechreiz aus, viele Chinesen würden für dieses Knacken nicht nur Hühner töten. Nirgendwo sonst als bei Innereien findet man eine so große Vielzahl an Geweben mit unterschiedlicher Spannung, Festigkeit und Oberflächenstruktur. Jeder Abschnitt eines Schweinedarmes zeichnet sich durch eine gewissen Kauwiderstand aus, Magen, Niere, Herz, Lunge, Leber erzücken den chinesischen Gaumen nicht nur durch variierenden Geschmack und variierende Struktur, sondern das Auge auch durch ein unterschiedliches Erscheinungsbild. Wie oft haben mir chinesische Gäste in Europa gelangweilt zugeraunt, daß sie immer dasselbe am Teller hätten, ein großes Stück Fleisch und ein paar Beilagen. Das unweigerliche Aufsuchen von China Restaurants ist für chinesische Touristen, die länger als drei Tage ihr Heimatland verlassen, vorprogrammiert; so wandern diese Reisegruppen denn auch oft ausgetretene Pfade und kommen mit der lokalen Kultur des besuchten Landes zumindest kulinarisch wenig in Kontakt.
以食为疗 | yishi weiliao | Nahrung als Medizin verstehen
Adeline Yan Mah, eine chinesische stämmige und in den USA lebende, mittlerweile pensionierte Medizinerin, schreibt in ihrem Buch Watching a Tree to Catch a Hare, dass die Chinesen seit jeher jegliche Nahrung als Medizin verstehen. Es hat mich etwas überrascht, dass die oben zitierte Definition des deutschen Begriffes Nahrung dieselbe Bedeutung in sich trägt. Ich kann mich nicht erinnern, dass in meinem erlebten Ausbildungskanon Essen jemals die Konnotation gesund- oder sogar heilender Kraft hatte. In den Kulturen Indiens und Chinas ist dieses Konzept sicherlich tiefer verankert als in den Industrienationen des Westens. Mittlerweile sind Ayurveda und TCM ein geflügelte Worte in unseren Kulturkreisen geworden, oft als oberflächliche Modeerscheinung, nicht wenige Anwender verstehen die Materie der östlichen Ernährungswissenschaft und versuchen sie sinnvoll mit den modernen westlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen. Nichts desto trotz fehlt es uns im Westen an diesem überkommenen Bewusstsein für die richtige Art und Weise sich zu ernähren, der Wahrnehmung von manchen Nahrungsmitteln als eher für die kalte Jahreszeit geeignet, weil mehr Yang hältig, also physische Agonisten stimulierend, oder eher für die warme Jahreszeit geeignet und im Effekt erhitzend und stimulierend, weil mehr Yin haltig, und daher physische Antagonisten stimulierend, und im Effekt kühlend und beruhigend. Nie zuvor habe ich Ingwer Tee als wärmeeinflößendes Getränk für die kalte Jahreszeit gekannt oder frisch gekochten Birnensaft als fiebersenkendes Hausmittel eingenommen. Vielleicht sind uns diese Binsenweisheiten durch die Pharmaindustrie, die schnell wirkende Präparate für jedes Wehwehchen zur Stelle hat, verloren gegangen. Wer macht sich heute noch die Mühe bei einer Verkühlung seinem Kind eine Zwiebelschmiere zuzubereiten und auf die Brust jeden Abend aufzutragen, wenn ein Antibiotikum einfach zu einer Tasse Tee eingenommen werden kann? Meine Großmutter hat mit mir noch so manche langen Nächte durchgestanden, vom Zwiebelschneiden weinend und von Schweinefett ledernd auf ihren faltigen Händen glänzend, und mich am nächsten Morgen sanft lächelnd Zwiebeltürk gehänselt.
[i] Lin Yutang: My Country and My People, p329
[ii] ibid, p330
[iii] ibid, p238
[iv] ibid, p331
以食为疗 | yishi weiliao | Nahrung als Medizin verstehen
Adeline Yan Mah, eine chinesische stämmige und in den USA lebende, mittlerweile pensionierte Medizinerin, schreibt in ihrem Buch Watching a Tree to Catch a Hare, dass die Chinesen seit jeher jegliche Nahrung als Medizin verstehen. Es hat mich etwas überrascht, dass die oben zitierte Definition des deutschen Begriffes Nahrung dieselbe Bedeutung in sich trägt. Ich kann mich nicht erinnern, dass in meinem erlebten Ausbildungskanon Essen jemals die Konnotation gesund- oder sogar heilender Kraft hatte. In den Kulturen Indiens und Chinas ist dieses Konzept sicherlich tiefer verankert als in den Industrienationen des Westens. Mittlerweile sind Ayurveda und TCM ein geflügelte Worte in unseren Kulturkreisen geworden, oft als oberflächliche Modeerscheinung, nicht wenige Anwender verstehen die Materie der östlichen Ernährungswissenschaft und versuchen sie sinnvoll mit den modernen westlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen. Nichts desto trotz fehlt es uns im Westen an diesem überkommenen Bewusstsein für die richtige Art und Weise sich zu ernähren, der Wahrnehmung von manchen Nahrungsmitteln als eher für die kalte Jahreszeit geeignet, weil mehr Yang hältig, also physische Agonisten stimulierend, oder eher für die warme Jahreszeit geeignet und im Effekt erhitzend und stimulierend, weil mehr Yin haltig, und daher physische Antagonisten stimulierend, und im Effekt kühlend und beruhigend. Nie zuvor habe ich Ingwer Tee als wärmeeinflößendes Getränk für die kalte Jahreszeit gekannt oder frisch gekochten Birnensaft als fiebersenkendes Hausmittel eingenommen. Vielleicht sind uns diese Binsenweisheiten durch die Pharmaindustrie, die schnell wirkende Präparate für jedes Wehwehchen zur Stelle hat, verloren gegangen. Wer macht sich heute noch die Mühe bei einer Verkühlung seinem Kind eine Zwiebelschmiere zuzubereiten und auf die Brust jeden Abend aufzutragen, wenn ein Antibiotikum einfach zu einer Tasse Tee eingenommen werden kann? Meine Großmutter hat mit mir noch so manche langen Nächte durchgestanden, vom Zwiebelschneiden weinend und von Schweinefett ledernd auf ihren faltigen Händen glänzend, und mich am nächsten Morgen sanft lächelnd Zwiebeltürk gehänselt.
[i] Lin Yutang: My Country and My People, p329
[ii] ibid, p330
[iii] ibid, p238
[iv] ibid, p331