Aggressive Sekte oder eine normale religiöse Bewegung? Seit zwei Jahren kämpft die chinesische Regierung gegen die Falun-Gong-Bewegung. Peking brandmarkt die Bewegung als gefährliche Sekte und wirbt damit im Westen um Verständnis für sein Verhalten. Der Erfolg von Falun Gong dürfte jedoch vor allem darauf beruhen, dass die Bewegung an Altes anlehnt und moralische Werte pflegt.
Vor gut zwei Jahren, am 25. April 1999, gelang es mehr als zehntausend Falun-Gong-Anhängern, unbemerkt von Geheimpolizei und Sicherheitsorganen sich im Zentrum von Peking vor den Toren des Regierungskomplexes Zhongnanhai zu einer schweigenden Demonstration zu versammeln. Dieser friedliche Protest von meist älteren Frauen und Männern traf die Partei- und Regierungsspitze völlig unvorbereitet; die Führung war schockiert. Es dauerte drei Monate, bis die Einschätzung der Lage fürs Erste geklärt war und im Juli 1999 eine grosse Kampagne gegen Falun Gong begann, die in Dauer und Intensität seit dem Ende der Kulturrevolution einzigartig ist. Falun Gong, die in westlichen Medien zunächst als «Meditationsbewegung», im Verlauf der Entwicklung dann jedoch meist als «Sekte» bezeichnet wurde, stieg auf zum innenpolitischen Hauptfeind. Der gesamte staatliche Propagandaapparat wurde in Stellung gebracht, neue Gesetze wurden erlassen, Massenorganisationen mobilisiert und alle Mittel staatlicher Repression eingesetzt, um eine Bewegung zu unterdrücken, deren politische Ziele kaum zu erkennen sind.
Gesellschaftskritik
Westliche Medien berichten seit dieser Zeit mit erstaunlicher Regelmässigkeit über öffentliche Protestaktionen von Falun-Gong-Anhängern, die meist nach wenigen Sekunden von Sicherheitskräften gewaltsam beendet werden. Der riesige Platz am Tor des Himmlischen Friedens im Zentrum von Peking, dessen Symbolgehalt seit der gewaltsamen Niederschlagung der Studentenproteste am 4. Juni 1989 noch gesteigert ist, ist zu einem der bestbewachten Orte Chinas geworden. Trotz dem oft brutalen Zugriff bei Festnahmen, trotz hohen Gefängnisstrafen für zahlreiche Aktivisten und einer weit höheren Zahl von Inhaftierungen ohne Prozess in Arbeitslagern scheint die Widerstandskraft der Falun-Gong-Bewegung nicht zu erlahmen. In einer für China beispiellosen Form des zivilen Ungehorsams bekennen sich immer wieder Anhänger öffentlich zu dieser Bewegung. Verhaftung, Misshandlung, der Verlust des Arbeitsplatzes und soziale Stigmatisierung halten sie nicht ab, die Staatsmacht durch stille und bisher gewaltfreie Demonstrationen ihrer Präsenz herauszufordern.
Es ist schwierig, sich ein realistisches Bild von der Falun-Gong-Bewegung zu machen. Zu sehr sind die Informationen, die an die Öffentlichkeit gelangen, von Interessen gelenkt. Da ist auf der einen Seite die Propaganda der chinesischen Regierung, laut der Falun Gong eine gefährliche Sekte ist. Unter der Führung eines gewissenlosen Meisters, ihres Gründers Li Hongzhi, verbreite sie aberwitzige Lehren, kontrolliere die Gedanken, sammle illegal Gelder, organisiere geheime Gruppierungen und gefährde die Gesellschaft. Deshalb, so die chinesische Botschaft in Berlin, sei Falun Gong keine einfache illegale Organisation, sondern eine typische Sekte. Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem die westliche Öffentlichkeit die Bewegung einordnen soll. Was von einer «typischen Sekte» zu halten sei, scheint keines weiteren Kommentars zu bedürfen.
Auf der anderen Seite haben wir die Selbstdarstellung der Mitglieder. Für sie ist Falun Gong «eine Meditationspraxis für Körper und Geist, wobei der Praktizierende die höchsten Prinzipien von Falun Dafa - Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit, Nachsicht - und die fünf harmonischen, leicht zu erlernenden Übungen in sein alltägliches Leben integriert». So jedenfalls lesen wir auf der deutschsprachigen Website der Bewegung. Gefährliche Sekte und Gehirnwäsche stehen so gegen Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht. Propaganda und Gegenpropaganda zeichnen grundverschiedene Bilder; da es wenig neutrale Informationen gibt, scheint eine fundierte Urteilsbildung schwer, wenn nicht unmöglich.
Verschiedene Varianten von Qigong
Einige Fakten scheinen jedoch gesichert zu sein. Die Bewegung wurde 1992 vom damals etwa 41-jährigen Li Hongzhi gegründet. Der Name Falun ist ein ursprünglich buddhistischer Begriff. Er bezeichnet das Rad der Lehre, das von Buddha in Gang gesetzt wurde. Gong ist eine allgemeine Bezeichnung für Atem- und Meditationstechniken, zu denen auch traditionelle Kampftechniken gehören. Vor allem die gymnastikähnlichen Formen des Qigong, die gleichzeitig Konzentrations- und Meditationsübungen darstellen, sind in China weitverbreitet. In den Parks der Städte kann man im Morgengrauen Gruppen von meist älteren Frauen und Männern beobachten, die in tiefer Konzentration Qigong praktizieren. Die Übungen gelten als förderlich für die Gesundheit, und auch in der akademisch betriebenen traditionellen chinesischen Medizin wird Qigong zur Behandlung und Linderung bestimmter Krankheiten mit Erfolg eingesetzt. In dem seit Ende der achtziger Jahre bestehenden «QigongFieber» war Falun Gong nur eine unter zahllosen Techniken, die von verschiedenen mehr oder weniger berühmten Qigong-Meistern propagiert wurden. Einige dieser Meister hatten landesweite Netzwerke von Anhängern gebildet, Schulungszentren gegründet und neben Ruhm vermutlich auch ein gutes Auskommen gefunden. Li Hongzhi war einer dieser erfolgreichen und organisatorisch begabten Qigong-Meister. Seine Falun Gong wurde innerhalb weniger Jahre zu einer Millionen zählenden Bewegung. Eine vergleichbare Grösse scheinen nur wenige andere Qigong-Organisationen erreicht zu haben, wie etwa die 1988 von Zhang Hongbao gegründete Zhong Gong («China Gong»).
Die grosse Attraktivität der Qigong-Bewegungen hat viele Ursachen. Für die meisten Praktizierenden steht ohne Zweifel der Wunsch nach Förderung der Gesundheit und Heilung von Krankheiten im Vordergrund. Dass es auf diesem Gebiet gewisse Erfolge gibt, ist unbestreitbar. Ein weiterer Aspekt ist die enge Verbindung von Qigong mit traditionellen chinesischen Vorstellungen über den menschlichen Körper als ein Mikrokosmos, in dem verschiedene immaterielle Kräfte wirken, die zum harmonischen Ausgleich gebracht werden müssen. Die Praxis des Qigong beruht auf theoretischen Grundlagen, die tief in der traditionellen chinesischen Weltsicht verwurzelt sind und sich völlig von modernen naturwissenschaftlichen Auffassungen unterscheiden. In der heutigen chinesischen Gesellschaft, deren Lebensformen sich zumindest in den Städten mehr und mehr an westlichen Vorbildern orientiert, ist Qigong ein Restbestand genuin chinesischer Tradition und Lebensführung. Dies mag nicht unerheblich sein in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und der Suche nach kultureller Identität.
Kultivierung von Körper und Innenleben
Auch die von Li Hongzhi entwickelte Qigong- Methode scheint ihren Erfolg vor allem aus den gesundheitsfördernden Elementen bezogen zu haben. Li Hongzhi betont in seinen Reden und Schriften, dass er grundsätzlich niemanden heile und es auch den Falun-Gong-Anhängern verboten sei, Kranke zu heilen. Aber selbstverständlich sei die Besserung der Gesundheit einer der Nebeneffekte, die die Praktizierung von Falun Gong mit sich bringe. Zugleich grenzt er seine Methode von denen «gewöhnlicher» Qigong- Meister ab. Falun Gong umfasst mehr als nur eine Methode zur Förderung der Gesundheit, also eine «Kultivierung» des Körpers. Wichtiger als die Körperkultur ist die Kultivierung der «inneren Natur», das heisst des moralischen Bewusstseins und der Einsicht in die Einheit des Kosmos. Schon in den Anfangsjahren der Bewegung trat Li Hongzhi mit diesen Lehren an die Öffentlichkeit; es scheint, dass er damit auf ein Thema gestossen war, das ihm grossen Zulauf brachte. Erst diese besonderen Aspekte der Lehre machten Falun Gong zu einer Massenbewegung, die in der Lage war, die chinesische Regierung herauszufordern.
Die Lehre des Li Hongzhi ist in einer ganzen Reihe von Büchern, die zumeist auf Vorträgen basieren, allgemein zugänglich. Vieles ist ins Englische, manches auch ins Deutsche übersetzt und im Internet für jeden abrufbar. Die meisten Gedanken und Behauptungen, die in seinem Hauptwerk «Zhuan Falun» - «Das Dharmarad drehen» - nachzulesen sind, müssen westlichen Lesern abstrus erscheinen und sind nur vor dem Hintergrund einer chinesischen Sozialisation nachvollziehbar. Die Sprache ist voller buddhistischer, in geringerem Masse auch taoistischer Symbole, die bei Chinesen den Eindruck des Bekannten bewirken dürften. Im Zusammenhang ist diese Lehre aber weder buddhistisch noch taoistisch.
Li Hongzhis Kenntnisse dieser Religionen sind augenscheinlich begrenzt und basieren sicher nicht auf einem systematischen Studium. Allerdings dürfte er mit seinem oft oberflächlichen Verständnis traditioneller religiöser und philosophischer Begriffe sehr gut die Auffassungsmöglichkeiten seiner Hörer treffen. Fünfzig Jahre atheistischer Propaganda und die Verachtung traditioneller Bildung haben dazu geführt, dass fundierte Kenntnisse der religiösen und philosophischen Traditionen nur noch bei einer Minderheit zu finden sind. Übrig geblieben ist das, was innerhalb der Familie, in der Trivialliteratur und im Fernsehen über diese Traditionen vermittelt wird. Es sind gewissermassen freischwebende Elemente traditioneller chinesischer Kosmologie, Philosophie, Religion und Folklore, die jeder kennt. Sie werden zwar nicht in Schulen gelehrt, aber nach wie vor durch die Sozialisation alltäglicher Kommunikation vermittelt. Gerade deshalb besitzen sie ein hohes Mass an Plausibilität, bleiben aber diffus und unbestimmt. Li Hongzhi greift diese freischwebenden Elemente der Tradition auf und bindet sie in ein System ein, in dem alles zusammenzupassen scheint.
Wenngleich die Mehrzahl der Falun-Gong-Anhänger ältere Menschen mit vermutlich oft geringer Bildung sind, ist sicher, dass auch Akademiker, Ärzte, Wissenschafter, Offiziere und Parteikader zur Anhängerschaft zählen. Die meisten werden zwar eher aus Gründen der Gesundheit zu Falun Gong gekommen sein, aber die spezifische Dynamik der Bewegung beruhte ohne Zweifel auf der Lehre. Allerdings waren es wohl nicht in erster Linie die gerade erwähnten obskurantistischen Elemente, die ihr Überzeugungskraft verliehen, sondern ein anderer Aspekt. Li Hongzhi verkündet - wieder im Einklang mit traditionellen chinesischen Vorstellungen -, dass der Mensch Teil einer umfassenden Ordnung des Kosmos sei. Diese kosmische Ordnung lasse sich mit physikalischen Kategorien nicht hinlänglich erfassen, da sie auch eine spirituelle Dimension besitze. Der Kosmos sei zugleich eine moralische Ordnung, indem die grundlegenden Prinzipien Zhen, Shan und Ren (Wahrhaftigkeit, Güte und Duldsamkeit) überall Geltung besässen. Das Ziel der inneren Kultivierung sei die Entwicklung dieser Tugenden. Auf diese Weise könne die wahre innere Natur verwirklicht werden und wieder in Einklang mit der kosmischen Ordnung kommen.
Erklärung der Erfahrungswelt
Die Stärke dieser Lehre und ihre Überzeugungskraft scheinen nicht zuletzt darin zu bestehen, dass sie eine plausible Erklärung für die Erfahrungen liefert, die ihre Anhänger machen. Denn die Störung der moralischen Ordnung ist für Li Hongzhi nicht nur ein individuelles Problem, sondern betrifft die gesamte Gesellschaft. Eine harmonische und geordnete Gesellschaft basiere auf der moralischen Ordnung des Kosmos, lehrt er. Genau hier liege jedoch die gegenwärtige chinesische Gesellschaft im Argen. Wo seien noch Selbstaufopferung und Güte, Wahrhaftigkeit und Rücksichtnahme zu finden? Heute regierten Selbstsucht, Rücksichtslosigkeit und Betrug. In den fünfziger und sechziger Jahren sei das noch ganz anders gewesen. Damit beschreibt Li Hongzhi eine Wahrnehmung der chinesischen Gesellschaft, die breite Zustimmung nicht nur bei seinen Anhängern findet. Die Modernisierungspolitik der letzten beiden Jahrzehnte hat zu gesellschaftlichen Fehlentwicklungen geführt, die auch von der Partei eingeräumt werden. Korruption, Betrug, rücksichtslose Bereicherung und moralische Orientierungslosigkeit sind weitverbreitete Erscheinungen, denen die Regierung in immer wieder neuen Kampagnen entgegenzutreten versucht. Insofern hat sie der impliziten Gesellschaftskritik von Falun Gong wenig entgegenzusetzen. Im Unterschied zu Falun Gong ist die Regierung allerdings für die von ihr bekämpften Missstände selbst verantwortlich.
Attraktivität der moralischen Dimension
Diese moralische Dimension der Falun-Gong- Lehre scheint Teil ihrer Attraktivität gewesen zu sein. Sie entspricht einem weitverbreiteten Lebensgefühl gerade älterer Menschen, die mit sozialistischen Werten gross geworden sind. Dass die beunruhigenden Fehlentwicklungen der Gegenwart Ausdruck und Folge eines allgemeinen moralischen Niedergangs seien, dürfte für viele eine einleuchtende Erklärung sein. Und auch die Lösung dieses Problems ist im Kontext traditionell chinesischer Vorstellungen plausibel: Der moralische Niedergang muss die Menschheit in den Untergang führen, sofern nicht eine grundlegende Änderung zum Besseren einsetzt. Jeder Einzelne ist gefordert, sein Verhalten zu ändern und an den kosmischen Prinzipien Wahrheit, Güte und Duldsamkeit zu orientieren. Die Kultivierung der eigenen moralischen Natur führt damit nicht nur zu innerer Harmonie und Freiheit, sondern ist zugleich ein Beitrag zur Rettung der Menschheit vor dem Untergang.
Bekennermut
Bis Anfang 1999 hatte Falun Gong mit dieser Kombination aus körperlicher und spiritueller Kultivierung nach eigenen Angaben in China eine Anhängerschaft von 70 Millionen gewonnen. Nach Meinung der chinesischen Regierung waren es nur 2 Millionen. Wir wissen nicht, wie viele davon nur eine Besserung ihrer Gesundheit erhofften. Aber wir wissen, dass viele zutiefst davon überzeugt waren und sind, eine gerechte und notwendige Sache zu vertreten. Dies erklärt den ungeheuren Bekennermut und die Bereitschaft, dafür schwerste Nachteile zu erdulden. Gerade die Fähigkeit, Unrecht zu erdulden, gilt im Rahmen der Lehre Li Hongzhis als Ausweis eines hohen Niveaus der inneren Kultivierung. Es scheint, dass ähnlich wie in bestimmten Epochen des Christentums das Martyrium deshalb als Akt der religiösen Bewährung gesehen wird. Ohne Zweifel haben viele, vielleicht die meisten Falun- Gong-Anhänger unter dem Druck der Verfolgungen seit 1999 die Bewegung verlassen. Aber jene, die sich weiter dazu bekennen, scheinen von einem Glauben durchdrungen zu sein, der durch Gewaltanwendung schwer zu brechen sein wird.
[1] Von Hubert Seiwert: Der Autor befasst sich als Professor für Religionswissenschaft der Universität Leipzig seit längerem mit volksreligiösen Bewegungen.