2013_eine_in_erinnerungen_schwelgende_reise_durch_den_nordwesten_yunnans__oder.pdf |
Bereits im Jahr 2002 war ich das erste Mal in den Nordwesten Yunnans gereist und hatte dort die Tiger Leaping Gorge, wie sie im Englischen heisst, durchschritten. Ich kann mich an den Eintrittspreis nicht mehr erinnern, jedenfalls durchzog weder das West- noch das Ostufer des Goldsand Flusses, wie der Oberlauf des Yangtze hier genannt wird, eine durchgehend asphaltierte Straße, deren Zweck es ist, Reisebusse beladen mit gehfaulen chinesischen Touristen zum Tiger Sprung Stein, einem Felsen der irgendwo von den Berghängen abgebröckelt und inmitten des reißenden Flusses zu liegen gekommen ist, zu photographieren. Damals gab es nur zwei Pfade, einen unteren, der nun in die Westuferstrasse umgewandelt ist, und einen oberen, der nach wie vor existiert und auch dieses Mal unsere Wanderroute sein würde.
Die Wanderung, welche wir durch zwei Nächtigungen im Naxi Yage und im Zhongtu Guest House unterbrachen, ist noch immer ein Erlebnis, obwohl alle von Menschenhand erschaffenen Konstrukte wie Lijiang in Volumen und Fläche gewachsen sind. Beide Gasthäuser haben die Anzahl ihrer Zimmer zumindest verdoppelt und die Preise vervielfacht. Dörfer die Anzahl ihrer Häuser rasant vermehrt. Am schlimmsten habe ich jedoch die gestiegene Verschmutzung wahrgenommen, die mir die Wanderung teilweise vergellt hat, sodass ich ein am Wege aufgesammeltes Plastiksäckchen schließlich in alter Tradition verwendet, um Müll aufzusammeln. Dieses Säckchen und ein weiteres, welches sich Karli an eine Hand klomm, wurde so schnell von Trinkflaschen, Kaugummipapieren, Zigarettenschachteln und anderem Abfall gefüllt, dass wir den weiteren Weg nur mehr auf die wilden Mülldeponien frustriert schielen konnten und versuchen mussten durch deren Anblick die nach wie vor herrliche Landschaft nicht zu vergessen. An einem Wegabschnitt nahm ich dann aber mein Mobiltelefon zur Hand und photographierte für 10 Minuten Gehzeit eine jedes Stück Abfall, dass in Wegesnähe zu erspähen war. Ich schränkte mich schnell auf jeweils zwei Meter rechts und links vom Weg ein, weil ich sonst mit dem Photographieren nicht nachgekommen wäre. Eine Schande. Eine Schande getan an Mutter Erde. Kein Mülleimer auf den gesamten zwanzig Kilometern der Schlucht. Bereits bei der Busfahrt von Lijiang nach Qiaotou, wo die Wanderung begonnen hat, konnten wir auf den Jinsha Jiang blicken und wunderten uns über die vielen weissen Kräusel, in welchen wir Gegenströmungswirbel wähnten, aber bald scharfen Auges feststellten, dass es sich um Plastikmüll handelte, der in unabzählbarer Vielzahl den Fluss hinunterschwamm. Für das grob fahrlässige Unterlassen jedweger Müllentsorgung 9 Euro zu verlangen ist ein Verbrechen an der Natur, welches der lokalen Bevölkerung teuer zu stehen kommen wird. Wenn die Umweltverschmutzung in der Geschwindigkeit weitergeht, welche ich in den letzten 11 Jahren konstatiere, so wird in weiteren 11 Jahren niemand mehr dieses einstmalige Kleinod besuchen.
Wir werden von zwei Naxi Männern mit jeweils zwei Gäulen begleitet und überlassen diesen aufgrund der grossen Hitze bald unsere Tochter, welche ich nicht mehr länger zu schultern vermag sowie einige schwere Rucksäcke. Am nächsten Tag begleiten sie uns durch die berühmten 28 Biegungen bis hinauf zur höchsten Stelle des höheren Pfades auf 2600 Meter. Als sie umkehren und unser Gepäck abladen, kommen wir noch einmal ins Gespräch. Beide sind mit dem Eigentümer des Naxi Yage Gasthauses verwandt. Wir erklären ihnen, dass die Abfallanhäufung in der Schlucht beseitigt werden muss und dass sie alle 500 Meter einen Mülleimer aufstellen sollten. Karli scherzt, dass neben Mülleimer noch ein Schild aufgestellt sein sollte, auf welchem für wildes Müllentsorgen Strafen angedroht sind. Einer der Männer antwortet uns, dass sie den Müll auch schlimm fänden, aber man nichts gegen die chinesischen Touristen machen könne. Interessant, dass er als Naxi von den Han spricht (und damit die ausländischen Touristen explizit ausklammert), die nicht anders können als ihren Müll unreflektiert fallen zu lassen. Auf den Rückwegen würden sie die Pferde meistens mit Müll beladen, aber das Volumen sei einfach zu gross, um ihm Herr zu werden.
In welcher Art von Bewusstseinszustand muss ein Mensch weilen, wenn er in dieser herrlichen Natur, welche durch ihre topographisch Abgelegenheit und schwere Zugänglichkeit niemals von Putzkolonnen oder Müllabfuhren frequentiert wird, quasi unzersetzbaren Abfall wegwirft? Und damit implizit akzeptiert a) die Natur ihrer Schönheit zu entrauben b) die Natur in ihrer Unversehrtheit zu vergiften c) allen nachkommenden Mitmenschen die Freude am Naturspiel zu vergellen? Die Geringschätzung des Gemeingutes Natur ist leider gerade unter den Bürgern meiner zweiten Heimat China derart weit verbreitet, dass gerade diese Geisteshaltung, dieser zu bemängelnde Bewusstseinszustand ein wesentlicher Grund für meine eigene Unfähigkeit ist, mich diesem Volke näher zu verbinden. Dieser blinde Egoismus hat sich in einem Müllfund besonders versinnbildlicht: jemand musste sein großes Geschäft erledigen und hat einzeln in Plastik verpackte Feuchttücher in einer Wegbiegung zurückgelassen. Die menschlichen Exkremente waren bereits von der Natur absorbiert worden, doch die Stelle der Entledigung war durch einige Feuchttücher und die jeweiligen einzelnen Plastikverpackungen unverkennbar sichtbar geblieben.
Am vierten Tage unsere Reise werden wir von unserem Fahrer in Hetaoyuan, einem Dorf namens Walnussgarten, abgeholt und fahren weiter über Haba und Sanba Dorf nach Baishuitai. Die ebenfalls 2002 besuchten Sinterterrassen waren damals mit einem sehr frisch aussehenden Holzpfad versehen, über welchen wandernd man einen schönen Rundgang durch das früher heilige Naxigebiet machen konnte. 30 Yuan (4 Euro) Eintritt macht uns auch hier glauben, dass sich jemand um den Erhalt dieses Naturspektakels und seiner nachhaltigen Erschliessung für den Tourismus kümmern würde, aber weit gefehlt. Wir stellen schnell fest, dass aufgrund von sporadisch aufgestellten Mülleimern zwar weniger Müll zu sehen ist, aber dafür die Holzplanken des Wanderpfades entweder morsch oder ganz fehlend sind, weswegen sich die meisten Besucher ihren eigenen Pfad durch die Sinterterrassen suchen, und diese dadurch in Mitleidenschaft ziehen. Am Gipfel angelangt sehen wir schließlich einige zerschlissene Männer die dort Camp aufgeschlagen und den Großteil des Wegeholzes unter Planen gehortet haben, um diesen vor Regen geschützt zu trocknen und einem Feuerplatz nebenan zuführen.
Nach einer langen, regnerischen Fahrt erreichen wir am selben Tag Zhongdian, das Zentrum der tibetischen Kultur Yunnans, welches vor einigen Jahren unter großen Feierlichkeiten in Shangrila umgetauft wurde. Das ursprüngliche Königreich Tibet wurde 1950 vom kommunistischen China annektiert und 1955 in neue administrative Zonen eingeteilt. Es erstreckt sich heute über Teile Indiens, Nepals, Bhutans, sowie über Teile der chinesischen Provinzen, Xinjiang, Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan.[ii] Shangrila, der Name eines fiktiven Ortes, den der US-amerikanische Autor James Hilton in seinem 1933 erschienen Roman Lost Horizon populär gemacht hat und dessen Landschaftsschilderungen sich möglicherweise auf die National Geographic Berichte des legendären Botanikers Joseph Rock berufen, wurde von einem skrupellosen, aber geschäftssinnigen Tourismusmanager usurpiert, um einer weiteren Disneyland-isierung von Minderheitskulurgütern den Weg zu bereiten. Ich erinnere mich genau, als mein holländische Reisegefährte Gemme und ich 2002 an vereinzelten tibetischen Wohnhäusern vorbeiwanderten und schließlich das Angebot willkommenhiessen, die letzten Kilometer in das Dorf Zhongdian auf einem kleinen Traktor, beladen mit Holzstämmen, einfahren zu dürfen. Wir erreichten damals ein kleines, unscheinbares Dörfchen, welches am A der Welt zu sitzen und in dem die Tourismusindustrie gerade erst zu erwachen schien. Keine chinesischen Badezimmerfliessen – Aussenfacaden, keine Betonbauten, sondern nur dürftig renovierte, alte tibetische Bauernhäuser, die wie uralte tiroler Berghöfe aussahen. Ich will mich in meiner Erinnerung nicht täuschen, aber selbst von der Panaromaplattform des Hundert Hühner Tempels, Baijisi, aus, konnte ich maximal 5000 Einwohner ausmachen. Zhongdian zählt im Jahr 2013 120.000 Personen und erstreckt sich ohne Unterbrechung bis hinauf in den sieben Kilometer nördlich der Stadt gelegenen Songcanlin Tempel, auch kleiner Potala genannt, welchen wir noch 2002 über Felder wandernd in einer Stunde Fussweg erreichten. Urbaniserung at it’s worst. Keine Raumordnung. Kein einheitliches Stadtbild. Kein Denkmalschutz. Keine Stadtplanung. Die niemals groß gewesene Altstadt wurde durch eine immense Neustadt umwuchert, der Stadtkern um einen Tempelkomplex und das weltgrößte, tibetische Gebetsrad verschönert, welches mit 21 Metern vergoldeter Höhe über die Stadt prangt und an welchem jeden Tag chinesische Reisegruppen tibetische Mantren stöhnend (jia you, jia you – gib Gas, gib Gas) ihrer harmonischen Gesellschaft huldigen. Die Auslagen sind überfüllt mit tibetischem Schmuck, ostchinesischem Billigkram (wozu der falsche tibetische Schmuck wohl ebenso zählt) und überteuerter südchinesischer Outdoor-Bekleidung. Aus den Lautsprechern der alles überschallenden Diskotheken, welche offensichtlich keine Tageszeiten kennen, dröhnen heftig vibrierende Bässe gemischt mit tibetisch anmutenden modernen Texten. Kein Stein ist hier auf dem anderen geblieben. Zhongdian hat sich gewandelt. Ich erinnere mich an die Kao San Road Bangkoks, die Hochsaison in Sölden, meine Maturareise nach Palma de Mallorca, in keiner Weise jedoch an ein utopisches Shangrila.
Warum all diese Unordnung? Warum dieser Mangel an Umweltbewusstsein? Warum diese siechende Auslöschung der lokalen ethnischen Kultur? Wir diskutieren diese Fragen in unserer gemischten Reisegruppe wieder und wieder. Ethnische Säuberung wird vermutet. Gieriger Kapitalismus und weit verbreitete Korruption verdächtigt. Eine zurückgebliebene Bewusstseinsstufe gescholten. Überlebenszwang aufgrund von Überbevölkerung in den ostchinesischen Regionen attestiert.
Der chinesischen Regierung eine wissentliche und absichtliche Strategie der ethnischen Säuberung und Eliminierung von Volksgruppen zu unterstellen, ist weit hergeholt. Jedoch ist ein grob fahrlässiges Unterlassen, die regionalen Kulturen vor ihrem Verderben und damit ihrem Aufgehen in der Han-chinesischen Mainstream-Kultur zu bewahren, nicht von der Hand zu weisen. Ähnlich der US-amerikanischen Regierung des 17. und 18. Jahrhunderts nimmt man den Untergang der eingeborenen Bevölkerung um Willen der Expansion des eigenen Lebensraumes in Kauf.
Administrative Unordnung im Sinne von fehlenden Bauordnungen und durchdachter Stadtplanung sowie mangelndes Umweltbewusstsein sind zwei Komponenten desselben Defektes einer Übergangsgesellschaft, welche viel zu schnell wächst, nach vorne stürmt, sich in ihrem Materialismus überschlägt und individueller Gier keine Schranken setzt. Die rasante Urbanisierung Chinas hat vor allem in ländlichen Räumen schreckliche Auswirkungen, weil dort noch mehr als in städtischen Gebieten - und in China an sich - die verantwortlichen Personen, kein wie auch immer geartetes Verständnis für den Erhalt von lokaler Atmosphäre durch architektonische und stadtplanerische Richtlinien haben. Jeder Ballungsraum wächst wie ein Geschwür, unkontrolliert wuchernd. Ob das einzelne Gebäude oder die Summe von Strassenzügen, nichts ist durchdacht, alles billigst für den Moment hingesetzt und dazu verdammt in kürzester Zeit abgerissen zu werden oder dem Verfall preisgegeben zu sein, und dabei dennoch wertvolle Ressourcen verschlingend, Holz, Beton, Stahl, Wasser, Strom, etc. alles für die materialistische Kurzlebigkeit, nichts für weitsichtige Nachhaltigkeit. Zhongdian ist heute, was Deadwood in seiner besten Zeit war.
Ein Teil unserer Reisegruppe quartiert sich, nachdem unser ursprüngliches Hotel die reservierten Zimmer weitervermietet hat in eine am Vortag eröffnete Unterkunft ein. Die Rezeptionistin stellt sich als die jüngere Schwester eines aus der nordchinesischen Provinz Shanxi stammenden Toursimusunternehmers vor. Ihr Bruder habe vor drei Jahren über das Internet ihre Schwägerin, eine Tibeterin aus Zhongdian, kennengelernt. Wie romantisch, entgegne ich. Inzwischen ist ein guter Teil der Schwägerschaft aus Shanxi nach Zhongdian gezogen und dies sei bereits das dritte Gasthaus, welches man eröffnet habe. Wie traurig, denke ich. Trotz der am selben Morgen durchgespielten chinesischen Eröffnungsfeier, von welcher hunderte zerfetzte Knallkörper vor dem Eingang noch zeugen, sieht das Interieur des Gebäudes bereits nicht mehr neu aus. Billigster Laminatboden schwingt bei jedem Schritt in unterschiedlichem Ausmaß, eine enge, rostige Metallstiege lässt Gäste in eine zweite und dritte Ebene vorstoßen, wo durch einen Glasboden und ein Glasdach der ursprüngliche Innenhof dieses alten tibetischen Gebäudes überdacht und begehbar gemacht wurde. Alles wirkt billig und kann von keiner Dauer sein. In einem zugewiesenen Zimmer löst sich bei erster Benützung der Duschkopf ab, in einem anderen, welches direkt neben der Rezeption liegt, ist die Toilette bereits von Urinspuren überzogen, weil das Personal den kürzesten Weg in das Gastzimmer suchte. Ein Rundumblick überzeugt, dass dieses Gebäude bereits nach wenigen Monaten eine Zumutung darstellen wird bzw wieder mit hohem Materialaufwand renoviert werden muss. So wie dieser Gasthof sind die falschen Altstadtzeilen und die Neustadtbereiche von dutzenden wenn nicht hunderten Hotels gesäumt, die allesamt von Han-chinesischer Hand operiert werden.
In den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen ist der Grund für administrative Unordnung und mangelnden Umweltschutz in der Korrumpiertheit der Regierung zu sehen, welche auf Steuereinnahmen erpicht, ignorant an den Futtertrögen gierig lungernd, sich einen wortwörtlich feuchten Dreck um die Zukunft dieses Ortes und seiner Sehenswürdigkeiten schert. Es wird in die eigene Tasche gewirtschaftet, und versucht so dick wie möglich abzusahnen; dabei zieht die Natur und der öffentliche Raum immer den Kürzeren. Gieriger Kapitalismus ist das Handlungsmotiv. Persönliche Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit. Auf die Frage, warum die lokale Regierung Lijiangs keine Mülleimer in der Tiger Sprung Schlucht aufstellt und sich die regionale Müllabfuhr nicht um die Beseitigung des Touristenmülls kümmert, kommen wir nur zu einer einsichtigen Antwort: weil sich die lokale Regierung nicht um die Umwelt kümmert. Es wird solange dies möglich ist, die Natur ausgebeutet, die Eintrittsgelder der Touristen eingesackt. Welche Bindung soll außerdem eine großteils aus Han Chinesen zusammengesetzte Volksvertretung an den Naturschätzen einer anderen ethnischen Gruppe haben? Der Parteisekretär aus Jiangsu wird für eine Legislaturperiode oder kürzer nach Yunnan versetzt. Er versucht aus diesem Posten das Beste für seine Karriere herauszuholen. Für sich uns seine Karriere. Jene Regierungsmitglieder oder Beamte des Verwaltungsapparates, welche aus den lokalen Reihen kommen, müssen als die schlimmsten Opportunisten eingestuft werden, da sie ihre Fahnen in den Wind hängen, der aus Peking weht und für eine Beteiligung am grossen Absahnen ihre eigene Kultur, ihre Werte, sich selbst verleugnen. Aber selbst dem kleinen tibetischen Bauer fehlt jedes Umweltbewusstsein bzw das Wissen wie man mit den noch immer neuartigen Abfällen, die nicht mehr wie früher einfach verrotten, umgeht. So sehen wir selbst in den abgelegensten Gegenden des Pudacuo National Parks Plastikverpackung in regelmässigen Abständen liegen, welche nicht von ostchinesischen Wanderern, sondern nur von Bauern, Hirten oder Pilzesammlern stammen kann.
Der schliesslich wesentlichste Grund für all die oben beschriebenen Probleme ist sicherlich in der Überbevölkerung der ostchinesischen Regionen zu suchen. Der Überlebensdruck wächst in diesen Teilen Chinas von Tag zu Tag und ist für Europäer kaum vorstellbar. Daher drängen jedes Jahr Millionen von Menschen in neue Lebensräume, wo sie meinen sich ein Überleben sichern zu können. Und hat es einer geschafft, so gelangt die Nachricht bald zurück in seine Herkunftsstadt, um Familie und Freunde zur Auswanderung zu bewegen. Dieses Phänomen kann einerseits in den westlichen Provinzen Chinas wie Tibet und Yunnan festgestellt werden, wo sich viele Ostchinesen mit niedrigerem Bildungsniveau niederlassen, um vom touristischen Aufschwung zu profitieren. Andererseits aber auch im Ausland wo vor allem chinesische Facharbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler samt dem zur Verpflegung notwendigen Tross von Landsleuten in rohstoffreichen Regionen Afrikas, Südamerikas und Südostasiens langfristig ihren Lebensmittelpunkt finden.
Unser erstes Ausflugsziel in Zhongdian führt uns zum kleinen Potala, dem Songcanlin Temple, der in seiner Grundform bereits 1679 erbaut wurde und laut Reiseführer derzeit 600 Mönche beherbergt. Unser Reiseführer gibt auch an, dass man links am Hauptgebäude des touristischen Empfangzentrums vorbeiwandernd den Tempel in einer halben Stunde zu Fuss erreichen kann. Nachdem wir zum Wandern und nicht zum Busfahren nach Yunnan gekommen sind, schlagen wir diese Route ein. Bereits beim Empfangszentrum, welches protzig am Fuße der Tempelanlage erbaut wurde, werden wir von einem in Kampfanzug gekleideten Mitarbeiter der Anlage beäugt. Die 115 Yuan (15 Euro) Eintrittsgebühr zum Tempel umfassen 35 Yuan (5 Euro) für einen Bustransport vom Empfangszentrum bis in die etwa drei Kilometer entfernte Tempelanlage. Ich erinnere mich wieder an unseren Besuch im Jahr 2002 und erhalte dies von unserer australischen Reisebegleiterin Anna bestätigt, welche noch 2004 hier war, dass der Eintritt in die Tempelanlage 10 Yuan (damals 1 Euro) und die Busfahrt 1 Yuan (10 Euro Cent) kostete. Wir wandern durch das Empfangszentrum und ich sehe am Ende der Straße groß in rot angeschlagene Tafeln 游客禁止, Touristen stop. Ein geöffneter Schranke deutet an, dass der Privatverkehr hier endet und der Umstieg auf die goldenen Touristenbusse zwingend ist. Wir wandern außen herum und nehmen einen schmalen, ausgetretenen Pfad den Hügel hinauf, der sich bald wie überall in der Umgebung Zhongdians in eine wunderbare Almlandschaft ergibt. Rosarote und gelbe Riesenschlüsselblumen säumen den Hang bis wir auf einem Bergrücken entlang durch einen Föhrenwald wandernd an eine der typischen, drei Meter hohen Lehmwände gelangen, welche wir an einer durchbrochenen Stelle durchschreiten. Vor uns entfaltet sich ein Becken, in welchem hinter einer sumpfartigen Weidelandschaft, die von einem Holzsteig umrundet wird, der Songcanlin Tempel mit verguldeten Dächern sich majestätisch erhebt. Unser sicherlich nicht von Touristenmassen gewählter Weg ist wieder mit Müll gepflastert, sodass ich erneut einen Plastiksack mit Flaschen und anderem Unrat befülle. Mir scheint, dass der Unrat vorwiegend von Bauern weggeworfen wurde, denn neben einer zerschlissenen Baseball Kappe greife ich einige kaputte Stoffhandschuhe auf, die von landwirtschaftlichen Arbeitern üblicherweise getragen werden. Am Ende des Pfades der in die von den Bussen befahrene asphaltierte Straße mündet, werden wir mit Blaulicht von jenem in Kampfanzug gekleideten Mitarbeiter der Sehenswürdigkeit aufgegriffen. Ich bemerke bereits aus der Ferne, dass sich eine unfreundliche Gestikulation zwischen meiner Frau und der Person ergeben hat. Als ich hinzustoße, stelle ich schnell fest, dass mit diesem Tier kein Gespräch möglich ist. Wir werden wie Vieh von einem Hirten angebrüllt und aufgefordert die Straße zurück zum Empfangszentrum zu gehen, um eine Eintrittskarte zu kaufen. Ob dies nicht auch beim Tempel möglich sei, fragen wir, da wir keine Buskarte benötigen und wandern wollen. Der unverständliche Zorn des sich als Tibeter herausstellenden Aufsichtsorgans ebbt weiter und artet in eine kleine Handgreiflichkeit aus, nachdem ich mich an sein Dienstfahrzeug lehne und versuche nochmals zu vermitteln. Anstatt beschwichtigen zu können, fühlt sich der rabiate Unmensch von mir angegriffen und stößt die Türe auf um mit geballter Faust den Arm zu schwingen. Die Situation eskaliert und meine Frau ruft die Polizei, welche fünf Minuten später eintrifft. Es wird uns erklärt, dass das Problem nicht die nicht gelöste Eintrittskarte, sondern unsere Wanderroute durch heiliges tibetisches Gebiet ist. Der Polizeibeamte, welcher der Volksgruppe Naxi zugehörig als Herr He bei mir vorstellt, führt weiter aus, dass wir einen tibetischen Friedhof durchschritten haben. Wir verstehen aber trotzdem nicht, warum der sich wild aufspielende Unmensch derart gebärdet, da wir schließlich unsere Gäste auch nicht derart behandeln, wenn sie durch einen europäischen Friedhof wandern. Dass er mich noch mehr anbrüllt als ich ihm den Sack mit Müll zeigen und damit andeuten will, dass wir in keiner arglistigen Absicht den Wanderweg gewählt haben, versagt uns dann noch weiter eine Verständigung zu suchen. Er brüllt uns stotternd entgegen, dass wir kein Recht hätten diese Gegenstände aufzuheben, da es sich um die Habseligkeiten der dort Beigesetzten handle. Ich leere den Sack vor ihm aus. Schmutzige Plastikfalschen und leere, vergammelte Zigarettenschachteln purzeln vor uns auf die Straße. Ob es sich hierbei um Geschenke an die Verstorbenen im Jenseits handle, frage ich. Nachdem kein Einlenken ersichtlich ist, drohe ich mit gezücktem Mobiltelefon eine Aufnahme vortäuschend diesen Vorfall auf weibo zu publizieren. Es kann nicht angehen, dass man wohlgesonnene Touristen grundlos wie Verbrecher behandelt. Die beiden Polizeibeamten lenken ein und versuchen uns zu beschwichtigen, indem sie uns einen Transport zum Empfangszentrum anbieten. Meine Frau bleibt mit ihren Cousins und einem anderen Polizeibeamten beim Tatort stehen während wir uns Karten besorgen. Dieser erklärt ihr dann – und so erfahren wir von einer dritten Konfliktebene – dass der tibetische Sicherheitsbeamte vor allem gegen Han Chinesen wettere, da die ethnischen Spannungen zwischen den Han und den Tibetern dazu geführt hätten, dass bereits 200 der ursprünglichen 600 Lamas das Kloster verlassen haben und ins Ausland geflüchtet seien. Wir zahlen also zehn Mal mehr Eintritt als vor 10 Jahren, um uns an einen Ort zu begeben, der eine Grundstimmung von touristischer Ausbeutung, vorgeschobener Religiosität und ethnische Unterdrückung in sich trägt. Auf dem Rest unserer Reise soll uns der running joke begleiten, dass wir jeden erblickten Abfall als holy crap und falsche Erläuterungen als holy bullshit belächeln. Der Sicherheitsbeamte war schlicht eine Nazi, der seine ihm anvertraute Machtposition schändlich und rücksichtslos gegenüber Touristen ausnutzte. Als wir die Tempelanlage verlassen, sehen wir wie er an einem anderen Pfadende andere Touristen in selber Manier aufgreift. Die heiligen tibetischen Ruhestätten, welche wir angeblich überschritten, sind Humbug, da dort nur Han-chinesische Steingräber aber keine Luftbestattungsstäten der Tibeter zu sehen waren. Einzig die ethnische Spannung zwischen Tibetern und Han sowie deren gierige Kollaboration in der Ausschlachtung der regionalen Kulturgüter ist als Tatsache zu bewerten.
Im Pudacuo National Park an dessen Gründung ich 2005 in Kunming bei The Nature Conservancy mitarbeiten durfte wird uns am nächsten Tag kommunistische Administration und abermals kapitalistische Gier vorexerziert. Wir berappen 258 Yuan (32 Euro) für ein Tagesticket, welche wiederum 130 Yuan (15 Euro) für den parkinternen Bustransport beinhaltet. In der Gewohnheit, dass die schönsten Orte der Alpen, welche ebenfalls Nationalparks sind, entgeltlos besucht werden können, sind 32 Euro ein kaum zu verkraftender Preis. Die 69 km lange Rundstraße, auf welcher die Nationalparkbusse im Uhrzeigersinn verkehren, bringt die täglichen 8000 Besuchen zu den beiden Hauptattraktionen Sudu Lake und Bita Sea, zwei Hochlandseen, die in eine alpine Almlandschaft eingebettet sind. An beiden Seen ist ein etwa 3 km langer Betonsteg errichtet, auf welchem man am Ufer vorbeiwandert, um am Ende wieder vom Bus aufgegriffen zu werden. Wir entscheiden uns gegen die Busfahrt uns wandern ein ebenso schönes Nebental etwa vier Stunden lang vom Nationalpark Eingang Richtung Norden zum Bita Meer. Dort angekommen, sind wir zwar glücklich darüber, nicht nur eine kurze Strecke auf einem Betonsteig marschiert zu sein, sondern an tibetischen Almhütten vorbei, Bäche überquerend, durch blühende Sumpfwiesen stapfend eine richtige Wanderung genossen zu haben, sehen aber auch ein, dass abschreckende, massentouristische Organisation sowie die Vorgabe nur auf den Betonstegen die beiden Seengebiete besichtigen zu dürfen, der richtige Zugang zur Erschließung dieses Nationalparkgebietes ist. Würden 8000 Menschen täglich unkontrolliert durch dieses Kleinod marschieren, so wäre bald nichts mehr davon zu bewundern. Was passiert jedoch mit 258 mal 8000, das sind 2 Millionen Yuan täglicher Einnahmen? Wie viel kommt davon der lokalen Bevölkerung, der lokalen Infrastruktur, dem lokalen Umweltschutz zugute? Wie viel versinkt bei der lokalen Regierung am Weg nach Beijing? Wir stellen uns dieselben Fragen erneut.
Wir fahren am nächsten Tag weiter nach Tacheng. Die angegebene Fahrzeit von drei Stunden verlängert sich auf insgesamt sechs Stunden, da unser Fahrer seinen untermotorisierten und abgemarterten Kleinbus im Schneckentempo über die Serpentinen quält, welche sich von Zhongdian nach Norden und dann in ein Quertal des Yangtze Richtung Westen bis hin zu dessen Oberlauf ziehen. Bereits als wir das Quertal verlassen, bemerken wir an der veränderten Architektur, dass wir tibetisches Siedlungsgebiet verlassen und wie wir bei unserer Ankunft in Tacheng erfahren, in den Lebensraum der Lisu eingetreten sind. Ich bin an meine Reise von Lhasa nach Kathmandu erinnert, welche zwar auf der westlichen Seite des Himalayas, aber in selber Art einen massiven Höhenverlust zeitigte, der sich in einem rasanten Wechsel der ansässigen Kulturen auswirkte. Vom tibetischen Zhongdian, welches auf 3300 Meter liegt, dringen wir auf der Höhe des Yangtze Flusslaufes auf 1900 Meter in den Siedlungsraum der Lisu ein. Tacheng vermittelt einen im Vergleich zu den prächtigen tibetischen Höfen verkümmerten Eindruck, doch der Besuch des Weißes Pferd Schneeberges am Folgetag macht dies wieder wett. Unser Bus bringt uns auf 2600 Meter und wir wandern noch 200 Meter höher, um dort die Goldmasken Affen in freier Wildbahn zu beobachten. Eine Sippe von 60 Exemplaren und 6 Familien wird vor unseren Augen in diesem alpinen Regenwald gefüttert. Weltweit gibt es laut Erklärung der Nationalparkmitarbeiterin nur mehr 2300 Stück dieser Affengattung, 1800 davon leben im Gebiet des Baima Schneeberges, welcher mit seinen 20 5000er Gipfeln ein ideales Refugium bietet. Im Nationalparkgebiet befinden sich auch drei Lisu Dörfer, deren Architektur der tibetischen ähnlicher scheint, und tatsächlich bestätigt uns dies die Nationalparkführerin, die selbst aus einem dieser Dörfer stammt. Aufgrund permanenten Regens verzichten wir auf die anschließende Wanderung auf über 4000 Höhenmeter und machen uns auf den Rückweg. Ein Mitreisender meint, dass wir hier nochmal herkommen müssen, um in der Trockensaison diesen von Urwald überzogenen Berg zu besteigen. Doch ich befinde mich in einer seltsamen Verfassung, innerlich in völliger Ruhe, vielleicht ausgelöst durch dieses wunderbare Naturschauspiel inmitten einer bezaubernden Flora, aber meine Stimmung ist von Traurigkeit beschattet, und ich erwidere, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass wir diese Region noch einmal besuchen würden. Das einzigartige am Nordwesten Yunnans ist die Paarung einer wunderbaren Vegetation mit der Unterschiedlichkeit der beheimateten Minderheiten. Die fortschreitende Hanisierung sowie die damit einhergehende Konsumgesellschaft haben in den vergangenen zehn Jahren bereits viel dieser Einzigartigkeit zerstört. In weiteren 10 Jahren wird davon nicht mehr übrig sein als diese Disneyland-artigen Städte und Dörfer. Was die Natur betrifft, so ist es mir lieber in den Alpen oder in den Pyrenäen, auf gut beschilderten Wegen, in gut gewarteten Hütten, auf sauber gehaltenen Almen, ohne Kommerzgier und ohne wiederkehrende bürokratische Hürden meistern zu müssen, meinen Urlaub zu verbringen. Es wird also der letzte Urlaub in dieser meiner einstigen Wahlheimat gewesen sein, obwohl wir eines unserer Ziele, den Kawa Karpo, den zweitheiligsten Berg der Tibeter an der Grenze zwischen Yunnan, Tibet und Indien nicht erreicht haben.
Wir kommen daher einen Tag früher nach einer monströsen achtstündigen Busfahrt, die durch eine Panne unterbrochen war, wieder in Lijiang an, wo wir uns entschließen in der jüngst entwickelten Altstadt von Shuhe, einem ursprünglich kleinem Dorf vier Kilometer nördlich von Lijiang, zu nächtigen. Wir verlassen unseren Bus, nur mit dem notwendigsten Gepäck, und machen uns auf die schnell erfolgreiche Suche nach einem Quartier. Als wir unseren Fahrer anrufen, um ihm die Adresse des Hotels durchzusagen, verneint uns dieser das dritte Mal den Dienst, unser Gepäck bis vor die Türe unserer Unterkunft zu fahren. Der Grund dafür war heute morgen klar ersichtlich als wir das Goldmasken Affen Reservat verlassen wollten, und unser Fahrer den Retourgang nicht und nicht einlegen konnte, und sich schließlich nur mühsam im zweiten Gang aus der matschigen Wiese schaukelte. Das Getriebe unseres Busses ist defekt, der Bus selbst mit über 300.000 Kilometern reif für den Schrottplatz. Unser Fahrer teilt meiner Frau am Telefon mit, dass er die ausstehenden 2600 Yuan jetzt haben will, ansonsten würde er mit unserem Gepäck wegfahren. Das traut er sich nicht, meint meine Frau, wir haben eine Kopie seines Personalausweises. Nach kurzer Beratung rufen wir das Kunminger Tourismusunternehmen an, über welches wir Bus und Fahrer für 1700 Yuan pro tag gebucht haben und beschweren uns über dieses mangelhafte Service. Ein defekter Bus und ein störrischer Fahrer für 220 Euro pro Tag ist inakzeptabel. Wieder zurück beim Parkplatz stehen wir vor einem versperrten Bus und sind mit einem unfreundlichen Fahrer konfrontiert, der lautstark seufzt, dass ihm in zehn Jahren Fahrdienst noch nie ein derartiges Verhalten untergekommen sei. Er verweigert mit dem Tourismusunternehmer zu sprechen, mit welchem wir den Vertrag abgeschlossen haben, und rechnet uns an seinen zehn Fingern vor, dass er uns bereits sieben Tage durch das Land gefahren und dafür nur 6000 Yuan bekommen habe. Das sei nicht unser Problem, wird erwidert, wir haben einen Vertrag mit seinem Dienstgeber über ein funktionstüchtiges Fahrzeug. Dieser Vertrag kann nun nicht eingehalten werden, er soll sich mit seinem Dienstgeber auseinandersetzen und nicht unser Gepäck beschlagnahmen. Kein Einreden hilft, sodass wir uns erneut gezwungen sehen 110 zu wählen und die Polizei zum Geschehen heranzuholen. Innerhalb von nur einer Woche zwei Auseinandersetzungen, die von lokalen Sicherheitsorganen geschlichtet werden müssen. Welch eine Schande! Ich schäme mich vor unseren Gästen. Ich schäme mich für China, für dieses Land, welches mit der heuchlerischen Anrede pengyou, zu Deutsch Freund, ausländische Gäste um deren Devisen willen anzulocken versucht, diesen jedoch in weitverbreiteter xenophober Haltung gegenübersteht. Drei junge Beamte des Büros für öffentliche Sicherheit kommen zehn Minuten später zum Tatort hören sich den Sachverhalt an, jenen aus unserer Perspektive vor allen Beteiligten, unser Fahrer wird für dessen Schilderung kameradschaftlich hinter den Bus gezogen, wo man versucht seinen Auftraggeber telefonisch zu erreichen. Nach einer halben Stunde kommt man keinen Schritt weiter, ich werde ungeduldig und frage den leitenden, noch jungen Beamten, ob er diese Situation nun lösen könne. Er arbeite dran, erwidert dieser, wir müssen auf das Eintreffen des Tourismusunternehmers warten. 45 Minuten. Ich entgegne gereizt, dass es offensichtlich zu einer Verletzung eines privatrechtlichen Vertrages durch den Fahrer und seinen Arbeitgeber gekommen sei, dass wir jedoch 110 gewählt hätten, um unser widerrechtlich festgehaltenes Eigentum unter angedrohtem Diebstahl wiederzuerlangen. Welches Gesetz würde es in China erlauben, Gepäck von Touristen grundlos zu beschlagnahmen? Der Beamte reagiert nun seinerseits gereizt, vor allem weil ich die Cousine meiner Frau auffordere von nun an alles für weibo festzuhalten. Wir sollen die Kamera ausmachen, wird mit bissigem Blick verlangt, welches Gesetz die Aufnahme verbiete, will ich wissen. In gebrochenem Englisch stößt der Beamte hervor, Do you understand? Und ergänzt in Chinesisch, dass er hier bei uns sei, um diesen Konflikt zu lösen. Daraufhin gehen alle drei Beamten zu ihrem Elektrobus. Wir sehen uns entgeistert an. Als ich mit Verstärkung eine halbe Stunde später anrücke, um der Situation mehr Nachdruck zu verleihen, sehe ich zu meinem Entsetzen, dass meine Frau und ihre beiden Cousins im Regen vor dem Einsatzfahrzeug stehen, unser Fahrer jedoch bei den Beamten im Auto. Die Polizeibeamten, die klar die Seite des Rechtsbrechers ergriffen haben, wollen sich weiterhin aus der Angelegenheit halten und bekräftigen, dass das Tourismusverwaltungsbüro für diese Angelegenheit zuständig sei. Da wir nicht noch mehr Zeit verlieren wollen, zahlen wir dem Fahrer weitere 900 Yuan, um unser Gepäck auszulösen. Dieser sperrt schließlich den Bus auf und wir wandern an den teilnahmslosen Polizeibeamten vorbei in unser Hotel. Ich strecke einen Daumen entgegen und bedanke mich mit einem freundlichen Lachen 做得挺好! Gut gemacht! Wir sind eben ausländische Touristen in einem totalitären Staat, in welchem Recht nur von den zuständigen Behörden, die nie zur Stelle sind, exekutiert wird. Damit müssen wir uns abfinden und versuchen, den Rest der Reise zu genießen. Schließlich könnte uns ein ähnliches Ereignis auch auf Urlaub in Italien, Venezuela oder Russland ereilen.
Der nördliche Teil von Shuhe, welches vor 10 Jahren noch keiner kannte, hat uns einen bezaubernden Spaziergang beschert, welchen keiner erahnen konnte, muten doch der südliche Teil durch welchen man in die Altstadt kommt wie ein verkleinertes Lijiang an: im alten Naxi Baustil errichtete neue Reihenhäuser, die mit Geschäften und Restaurants monoton überladen sind. Doch je weiter man Richtung Norden wandert um so verspielter und authentischer werden die Gassen, immer öfter unterbrochen oder längswärts von offenen Wasserkanälen begleitet. Kleine Rinnsale, die stromaufwärts von einem klaren Karstbach abzweigen, die in kleine Teiche aufgestaut, mit Brückchen überspannt, Forellen beherbergen. Ach, wie schön und beruhigend kann doch chinesische Landschaftsarchitektur auf den Menschen wirken.
Die geplante Besteigung des Cang Rückens in Dali wird von weiteren Regenfällen sabotiert. Wo noch vergangenen Jänner die Gegend des Erhai verbrannt und von Dürre heimgesucht schien, haben die unaufhörlichen Regenfälle Yunnan wieder in jenes satte Grün verwandelt, welches ich von früher kenne. In Kunming wurden diese Woche schwere Überschwemmungen gemeldet, Automobile standen bis zum Dach im Wasser, die neu eröffneten U-Bahnen wurden geflutet, zwei Menschen fanden im Unwetter ihren Tod. Obwohl die Sommermonate in Yunnan saisonal der Regenzeit zugerechnet werden, kann ich mich nicht an derart intensive und lang anhaltende Niederschläge erinnern. Wir verschieben daher den geplanten Aufstieg zum Zhonghe Tempel und die Nächtigung im Higherland Inn, welches von der Altstadt Dalis aus in etwa drei Stunden Gehzeit erreichbar ist. Das Higherland Inn, welches kolportierterweise von einem Iren vor mehr als zehn Jahren eröffnet wurde und seitdem vielen, zumeist ausländischen Wanderern als base camp zur Besteigung des Cang Gebirges gedient hat, ist mir noch immer in bester Erinnerung. Nicht wie üblicherweise der wunderschönen Sonnenaufgänge wegen, welche man hoch über dem Bodensee-großen Erhai früh morgens von der lounge aus bei Kaffee oder Tee durch großflächige Fenster beobachten konnte, sondern wegen einer mehrbändigen ethnologischen Enzyklopädie, über welcher ich viele Stunden verbrachte. Dieses kostbare Druckwerk stand zur freien Einsicht neben vielen anderen Büchern in der lounge des Higherland Inn und war eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England gedruckte Sammlung von allen damals bekannten Ethnien. Jede einzelne Volksgruppe war darin detailliert beschrieben und in der für die damalige Zeit üblichen Art von nachkolorierten Zeichnungen zu den traditionellen Trachten versehen. Der Akkuranz dieser Beschreibungen und Bilder konnte ich mich schnell mit einem Vergleich der lokalen Bai Volksgruppe versichern. Überraschend war für mich jedoch als ich nach dem Studium der chinesischen Volksgruppen mich der Alpenregion zuwandte, dass um 1880 in Süddeutschland, Österreich, Norditalien und der Schweiz ebenso viele unterschiedliche Volksgruppen verzeichnet waren, welche ich nie als Ethnien meiner Heimatregion wahrgenommen hatte. Ebenso wie diese kollektiven Identitäten samt ihren Sprachen, Dialekten, Volkstum, Trachten und Traditionen in meiner Heimat von einer überregionalen, nationalen, supranationalen, internationalen Konsumidentität zu einem guten Teil aufgesogen worden sind, werden sie gegenwärtig durch die Hanisierung der Gesellschaft in China von einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft absorbiert. Der Besuch eines Tiroler Bergdorfes bestätigt wie wichtig für den Erhalt einer lokalen Kultur der Erhalt der traditionellen Architektur ist: Die Gebäude einer jeden Volksgruppe sind quasi das Fundament dieser ethnischen Identität; wird dieses Fundament zerstört, schwindet der Rest dieser Kultur unaufhaltsam. China hat hier noch einiges zu lernen; vielleicht will es aber nicht lernen. Die vergangenen zwei Wochen haben gezeigt: sowohl traditionelle menschliche Siedlungsräume wie auch für die jeweilige Region typische Landschaften werden im Sog der modernen Gier ihrer Originalität entzogen und im wortwörtlichen wie auch im übertragenen Sinne von dieser neuen chinesischen Mentalität verschmutzt. Eine sich auf die nationale wie auch individuelle mit Stolz geschwellter Brust geheftete Medaille des dem Westen Überlegen-Seins auf einer modernen Uniform und blankpolierten Stiefeln verbirgt den maroden und verrottenden Körper einer unmoralischen Gesellschaft. China hat terminologisch den kommunistischen Mantel nie abgelegt, aber die Kernwerte des Kommunismus in den vergangenen 65 Jahren innerlich pervertiert. Unter dem roten Mantel verbirgt sich eine braune Masse, welche von der Regierung jederzeit angestachelt werden kann, sich in aller Scheußlichkeit der Weltöffentlichkeit zu zeigen. Dieser gesellschaftliche Bewusstseinszustand hat viele weitsichtige und hellhörige chinesische Zeitgenossen bereits dazu veranlasst, dem Vaterland den Rücken zuzukehren und sich im Ausland einen Wohnsitz zu sichern. Symptome wie Umweltverschmutzung, Landschaftsverwüstung, mangelnde Lebensmittel-sicherheit, gesellschaftliche Ungleichheit, Korruption, etc. sind Auswüchse einer an der Wurzel dieser Nation nagenden moralischen Verdorbenheit, welche von der Regierung vorgelebt, von der Bevölkerung des Überlebenswillens imitiert werden muss.
Wir besteigen das Cang Gebirge einen Tag später und wandern an einem schlafenden Kassier vorbei, der uns 30 Yuan pro Person abnehmen sollte, um das einst frei zugängliche Wandergebiet zu betreten. Vom Zhonghe Temple aus breitet sich unter uns in bekannter Schönheit das Erhai aus; es werden aber auch schlagartig die baulichen Veränderungen der letzten Dekade klar. Das Seeufer, welches wir in Caicun besuchten ist in weiten Teilen bereits verbaut und es ist anzunehmen, dass sich das Erhai einem ähnlichen Schicksal wie der Dianchi, dem See an welchem die Provinzhauptstatt Yunnans, Kunming, liegt, ergeben muss: absehbares Umkippen und mühsame, langsame Schadensbehebung. Die nächsten 20 Jahre wird die Wasserqualität des Sees nicht zum Baden einladen. Neben touristischem Abfall wird die Landwirtschaft das ihrige dazu beitragen, dass die natürlichen Reinigungskräfte dieser Region versagen. Beim Higherland Inn angekommen, muss ich an ein chinesisches Sprichwort denken - 守株待兔 / auf einen Baum starren, um einen Hasen zu fangen - dessen übertragene Bedeutung ist: die einzige Konstante ist Veränderung. Wir stehen vor verschlossenen Türen, der Wirt ist nicht erreichbar, die Aussicht der Herberge durch hochgewachsene Bäume verschlossen. Nichts ist so wie im Jahr 2002. Die ethnologische Enzyklopädie kann ich durch das Fenster nicht mehr ausmachen. Wir steigen daher über den Jade Weg und die Phönix Stiege wieder ab nach Dali und beschließen trotz der hohen Kosten am nächsten Tag den neuen Lift zum 3700m hoch gelegenen 洗马潭 / Horse Washing Pond zu nehmen. Eine Karte kostet uns 252 Yuan und wir müssen zusätzlich die am Vortrag nicht bezahlte Naturpark Eintrittsgebühr von 30 Yuan abführen (insgesamt 35 Euro). Wir gehen am Kartenschalter vorbei durch das Burgtor einer auf alt gebauten Stadt, welche dort als Filmkulisse und Touristenattraktion steht und folgen einer asphaltierten Straße, auf welcher wir von Kleinbussen überholt werden, die chinesische Gäste vom Parkplatz zur Talstation der Gondelbahn transportiert. Den heimischen Touristen unseres Gastgeberlandes ist neben Vaterlandsliebe Gehfaulheit zum zweiten kollektiven Charakterzug geworden. Die von einer französischen Firma 2011 gebaute Gondelbahn ist sichtlich mit Besuchermassen ausgelastet. Die 8er Gondeln füllen sich unaufhörlich und wir verbringen zumindest eine halbe Stunde damit, uns in einer langen Schlage anzustellen; wenigstens hält sich im Gegensatz zum Kartenschalter hier jeder an die Warteschlange. Einen Umstieg und 1600 Höhenmeter später kommen wir an der Bergstation mit hunderten sommerlichst gekleideten Chinesen an, die sich sofort oder mit etwas Verzögerung zum Verkaufsladen begeben, um sich dort einen langen Wintermantel auszuleihen. Mein Cousine schildert daraufhin, dass sich in den 70er Jahren in den Alpen mit norddeutschen Flachlandtouristen ähnliche Szenen abgespielt haben, nunmehr aber niemand mehr mit high heels oder flip flops in eine Berggondel gelassen wird. Aus einem Lautsprecher brüllt in dieser Höhe eine weibliche Stimme man solle die Natur respektieren, von der Toilette weht ein starker Uringeruch, vor mir watscheln Dutzende Badetouristen. Ich hole mir eine Dose chinesisches Red Bull, um mich anzupassen. Blend in ist das Motto des Tages, allerdings fällt uns dies als in Bergmontur gerüstete Gruppe schwer. Und so werden wir auch gleich über die hunderten Treppen von einem Polizeibeamten in sicherem Abstand begleitet, der an der obersten Aussichtsterrasse auf 3800 Metern Seehöhe unscheinbar die roten Glücksbänder liest, eine von hunderten Glücksglocken, die an einer Balustrade baumeln in seiner Hand wiegt und seinen Blick in verlässlicher Frequenz zu uns wandern lässt. Klar für eine Besteigung des Cang Gebirges ausgerüstet sind wir für ihn tatverdächtig. Seine Begleitung verstehen wir erst, als wir auf der umzäunten Terrasse wie Vieh in einem Freiluftkobel herumwandern und erkennen, dass ein Weiterkommen verweigert ist. Der zum 4122m hohen Gipfel führende Pfad, welcher bei der Talstation auf einer überdimensionalen Wanderkarte aufgezeichnet ist, ist verbarrikadiert und in großen Lettern prangt 游客停止 - 进行禁止 | Touristen stop – Eingang verboten. Meine Nichten drehen fast durch, wo doch die Besteigung eines 4000ers das große Ziel der Chinareise gewesen ist und uns bereits die Wanderung zum Kawa Karpo durch anhaltenden Regen verwehrt worden ist. Als sich dichter Nebel über die Einstiegsstelle senkt, sind sie in dessen Schutz auf und unterwegs, ihr Vater folgt ihnen mit etwas Abstand. Ein chinesischer Tourist, angespornt vom Widerstand gegen die öffentliche Ordnung, macht es ihnen nach, aber der Nebel hat sich etwas gelichtet, der Polizeibeamte schlägt Alarm und zwingt den Unglücklichen zur Umkehr. Wir restlichen unserer Reisegruppe halten die Stellung auf der Aussichtsterrasse, um den Schein zu wahren, dass wir der öffentlichen Ordnung Folge leisten. Als wir einige Minuten später zur Bergstation aufbrechen, folgt uns auch der Polizeibeamte. Gefahr gebannt. Ausländische Naturpark-Invasoren ziehen sich zurück. Wir stehen eine Stunde Schlange bis wir eine Gondel besteigen, die uns zur Mittelstation auf 2800m bringt, von wo wir zum Jade Pfad auf 2600m absteigen und Richtung Süden zum Gantong Tempel mit bemerkenswert schöner Aussicht auf den Erhai wandern. Unsere Rechtsbrecher-Einheit schließt bald mit uns auf und meine Nichten schnattern ob ihrer Gipfelbesteigung wild durcheinander. Mission completed.
Unser Weg ist begleitet von der Diskussion, wie man ein derartig schönes Gebirge, das von 2000 bis auf über 4000 Meter Seehöhe reicht, 19 Gipfel umfasst, unterteilt ist von 18 Schluchten, durch jede ein Gebirgsbach bis zum Erhai fließend, nachhaltiger zugänglich machen können. Von einem Ticketkontrolleur erfragt, erfahren wir, dass selbst in der Regensaison 2000 Gäste die Seilbahn nehmen, was auf einen täglichen Umsatz von 5-6 Millionen Yuan schließen lässt. Peak season wäre Frühling wegen der Rhododendron Blüte und Herbst wegen klarem Himmel und guter Aussicht bei angenehmen Temperaturen. Die angeführten 300 Millionen Yuan Investitionssumme für die Erschließung des Cangshan Naturparkes, sind somit bereits im ersten Betriebsjahr erwirtschaftet worden. Anstatt Badetouristen auf fast 4000m zu hieven, wäre es besser gewesen die Gondelbahn nur bis zur Mittelstation zu bauen und nur jenen Personen den Zutritt zum Gipfel zu gewähren, die die beschwerliche Wanderung dorthin auf sich nehmen. Man hat jedoch die Natur der Gier geopfert und eine cash cow geschaffen. Wir sind im Abschluß dankbar für einen wunderbaren Abstieg durch die Qingbi Schlucht, in welcher wir vollkommen alleine sind, und uns erneut über das Verhältnis Chinas und seiner Bewohner zur Natur wundern.
[i] Die Naxis zählen zu einer der 56 von der chinesischen Regierung offiziell anerkannten Volksgruppen Chinas. Die Han machen mehr als 90% der Bevölkerung Chinas aus. Die südwestchinesische Provinz Yunnan ist die Heimat von 26 Volksgruppen.
[ii] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tibetischer_Kulturraum_Karte_2.png