Ich befinde mich derzeit selbst in einem ähnlichen miasma. der ewige generationenkonflikt, der mE immer aktueller wird, es aber natürlich schon immer war. Die gesellschaft droht zu bersten. Der westliche individualismus zerreibt die alten strukturen. Junge menschen wollen mit dem kopf durch die wand, wie es mein vater ausdrückt. Aber auch alte, so wie ich es sehe, wollen nicht wirklich einsehen, dass auch sie ihren teil zu einer ausgeglichenen verständigung beitragen müssen. Jeder schiebt jedem die schuld zu. Aber was soll ich denn tun, das beschäftigt mich eigentlich wirklich. Meine reise in den westen hat hier ein vorläufiges ende gefunden. Denn letztlich handelte es sich um eine reise auf der suche nach meiner identität. Und hier bei meinem vater liegen die wurzeln meiner identität begraben. Wurzeln derer ich mich immer schämte. Wurzeln, die mir so verrottet erschienen, dass ich mir sogar eine neue identität zulegte, und die alte verscharrte. Aber irgendwie hat mich dieser prozess nicht glücklich gemacht. Immer stärker hörte ich eine stimme, der ich mich zwar stets widersetze, die mich aber beständig hierher zurückrief.
Identität. Was ist identität? Während der fünf wochen in Xinjiang zerbrach ich mir ständig den kopf über die bedeutung dieses wortes, über seinen inhalt, dem die frage, wer bin ich zugrunde liegt. Ich fragte schliesslich meine Partnerin, was identität im Chinesischen heisst: shenfen 身份 antwortete sie, und fügte hinzu, shenfenzheng, bendan 身份证, 笨蛋! - Identitätsausweis, dummes ei! (ein wort, dass dem visageplagten ausländer sehr geläufig ist, und das ich eigentlich hätte kennen sollen.)
Wie schon sooft brachten mir die piktographischen elemente der chinesischen sprache eine gewisse erleuchtung. die beiden schriftzeichen für shenfen möchte ich daher hier genauer unter die lupe nehmen. Shen 身 bedeutet nämlich für sich alleine genommen körper. Fen 分 bedeutet „teil, portion“; fen besteht aus zwei radikalen (teile chinesischer schriftzeichen), wobei das eine „mensch“ bedeutet, das andere die aussprache bestimmt und ebenso mit „teil“ übersetzt werden kann. Shenfen bedeutet somit wortwörtlich übersetzt soviel wie „teil des menschlichen körpers“ oder „körperteil“. Jedenfalls tritt in den chinesischen schriftzeichen die ureigentliche bedeutung, der wahre inhalt, des wortes identität zutage. Er liegt nicht soviel in unserer geistigen, mentalen existenz als im menschlichen körper selbst. Mein körper ist meine identiät, nicht das von meinem geiste aufgesetzte bild.
Da wurde mir schlagartig klar wie geisteskrankheit verstanden werden kann. So definiert man in der Psychiatrie den geisteszustand eines menschen folgendermassen. Man unterscheidet zwischen „geistig normal“, die erste stufe von geisteskrankheit wird „neurotische störung“ oder „neurose“ bezeichnet, schwerere fälle werden „schizoid“ diagnostiziert, der geisteszustand, der geistig normal diametral gegenübersteht heisst „schizophren“. Vollkommen geistig abnormal bedeutet demnach vom körper abgetrennt, nicht mehr mit dem körper eins sein. Der patient hat in seiner vorstellung eine persönlichkeit entwickelt, die nicht mehr ident ist mit seiner physischen existenz. Er glaubt zB Napoleon zu sein, wobei dies logischerweise nicht möglich sein kann, da Napoleon eine menschliche materie war, die vor mehr als zwei jahrhunderten existierte. Der geistig gestörte hat seine identität verloren, er hat den bezug zu seinem körper verloren. Identität ist körperbewusstsein. Identität bedeutet, dass der körper mit dem geist, bzw der geist mit dem körper ident zu sein hat. In diesem sinne verstehe ich nun auch Spinozas radikale auffassung, es wäre jegliche abweichung von der „menschlichen natur“ als pathologisch, als krankhaft anzusehen. Auch für Spinoza, den begründer der modernen Psychologie, war identiät an den körper gebunden. Ein ansatz, der in unserer kopflastigen ära wohl schwer zu verstehen ist.
Drei jahre China hat es gebraucht, um mir meiner identität bewusst zu werden. Lange zeiten der isolation und das gefühl des andersseins, des nicht-dazugehörens. Ein gefühl, dass man in China sehr einfach erleben kann, in einem nationalstaat, der die nationszugehörigkeit schlicht dem aussehen unterstellt. Ja, und hier müsste ich nun erzählen über die erfahrungen und begegnungen meiner reise in den westen. Meiner reise in die provinz Xinjiang, im nordwesten Chinas. Und ich bereue hier, die letzten sonntage seit meinem mail aus Dunhuang nicht geschrieben zu haben. Ich war zu aufgewühlt. Danke jedenfalls für eure die netten rückmeldungen. Ihr gebt mir kraft in einer kritischen phase des übergangs. Und ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie wichtig es derzeit für mich ist, im schreiben ein ventil für die in mir angestauten emotionen und gedanken zu finden. Niemand scheint sich hier dafür zu interessieren. Ich bin verstummt.
Aber wie steht es denn mit Chinas identität? Kann ein nationalstaat eigentlich eine identität haben? Wie stehen die begriffe nation und identität miteinander in verbindung? Geschichte und zukunft in einem zeitalter des immer schnelleren wandels. Von den offizellen 1 komma 2 milliarden Chinesen sind nämlich offizell 90 millionen nicht der ethnischen gruppe Han zugehörig. Ich schreibe hier betont offiziell, da die demographischen daten der VR nicht klar nachvollziehbar sind. Manche sprechen von 1,5 milliarden, manche von 1,6. jedenfalls gibt es mittlerweile Chinesen auf der ganzen welt. In Österreich leben 40 000 Chinesen mit einem legalen visum, angeblich weitere 40 000 als u-boote. Die länder Südostasiens werden von einer chinesischen elite wirtschaftlich dominiert, in weltmetropolen wie Toronto, Sydney, NY, LA oder London ist Chinesisch längst zu einer wichtigen verkehrssprache geworden. Doch was man (oder zumindest ich vor meinem Chinaaufenthalt) schlechthin unter China versteht, diesem riesigen kontinent-staat auf der globalen landkarte, ist das China?
Als ich im Oktober 2000 meinen Zivildienst im Norden Chinas in der Provinz Heilongjiang antrat, da war China ein riesiges rotes land, von dem ich praktisch nichts wusste. In China leben 1,2 Milliarden Chinesen, so hatte ich gelesen, und weil jeder fünfte erdbewohner Chinese ist, so hatte ich mir gedacht, wäre es sicher keine dumme idee, in zeiten, in denen die welt immer internationaler bzw kleiner wird, Chinesisch zu lernen. Aber damit war meine weisheit auch schon zu ende.
In Heilongjiang, der „schwarzen drachen fluss“ provinz, die an Russland grenzt, lernte ich dann, dass das kommunistische China im eigenen land 56 ethnische gruppen anerkennt, also nicht jeder Chinese wirklich Chinese ist. Allerdings bekam ich von diesem ethnischen pluralismus reichlich wenig mit, weil die provinz zu, ich würde sagen, 99,9% von Han besiedelt ist. Und Han ist jene volksgruppe, die man –bei uns- schlechthin als Chinesen bezeichnet. Das war am anfang auch genug für mich. Ich konnte mich ohnehin mit niemandem verständigen und alle schauten gleich aus. Schwarze, glatte haare, gelbliche bis braune haut, im vergleich zu Europäern ein eher zierlicher körperbau.
Nun, im nachhinein betrachtet, ist die wichtigste erfahrung dieser zeit, für mich jene, anders zu sein. Ich war unter den unzähligen Chinesen einer der wenigen „Westler“ gewesen. Qiqihar, die stadt, wo ich gemeinsam mit drei weiteren österreichern den Auslandszivildienst versehen musste, hatte 1,5 Millionen Einwohner, die fast alle Han waren, also schwarze, glatte haare, gelblich-brauner hauttyp, flache nase, hohe augen, ähnliche physiognomie sozusagen.
Neben uns dreien gab es noch eine handvoll russische studenten, eine handvoll südkoreanische studenten, und noch ein paar exoten, wie einen Finnen, der in einer molkerei Qiqihars arbeite. Aber alles zusammengenommen waren in Qiqihar nicht mehr als 50 „anders-aussehende“ unter 1 ½ millionen Han-Chinesen. Auf den strassen rief man uns ständig „laowai“ nach, was soviel wie „ausländer“ bedeutet. Kinder, aber auch erwachsene, zeigten mit fingern auf uns und lachten. ich erinnere mich auch an einige begegnungen mit kleinkindern bzw babies, die in restaurants oder in bussen am schoss ihrer mutter, mich lange zeit stumm mit gebanntem blick fixierten, weil sie offenbar noch nie einen derartigen mensch gesehen hatten. Manche begannen zu weinen, vielleicht weil ich furchterregend „anders“ wirkte oder einfach nicht bekannt, andere waren einfach am neuen interessiert. Jedenfalls fühlte sich dieses ständige darauf-aufmerksam-gemacht-werden, dass man anders ist, mit der zeit äusserst eigenartig an, und ich fühlte mich zusehends isoliert. Es drängten sich mir bilder und vergleiche auf, wie schwarzes schaf in einer herde weisser, weisse tulpe inmitten eines feldes roter rosen. Vielleicht nicht so blumig, aber irgendwie am treffensten war „die spinne unter ameisen“. Denn ich war damals ein nicht gerade umgänglicher zeitgenosse gewesen, der sich in den ameisenhügel Qiqihar verirrt hatte.
Abgesehen vom frostigen klima und der dortigen topographie – über beides müsste ich getrennt schreiben - war dann auch die Han-monokultur Heilongjiang der grund, dass ich mich entschloss nach beendigung meines ZD nach Yunnan zu gehen. Yunnan war mir seit meiner ankunft in China als paradies dargestellt worden. Man erzählte mir, es herrsche der ewige frühling, die natur, berge, flüsse, seen, wäre traumhaft und es würden viele volksgruppen in Yunnan beheimatet sein.
Und so war es dann auch. Die eineinhalb jahre in Kunming waren ein wunderbare zeit. Die stadt bot mir alles, wonach ich mich gesehnt hatte. Sie war modern im zentrum, aber 10km ausserhalb war man grünster natur. Die temperaturen fielen nur wenige tage im jahr knapp unter den gefrierpunkt, aber auch im sommer war es aufgrunde der höhenlage nie zu heiss. Ich konnte mountainbiken, bergwandern, schwimmen, fast das ganze jahr lang. Die stadt hatte wunderbare parkanlagen, und wenn ich nur kurz raus wollte, dann lief ich einfach von meiner wohnung in der Kunming universität los und war innerhalb einer halben bis einer stunde auf 2500m und blickte auf die „weisse“ 4 millionen stadt hinunter, atmete die frische luft ein und war von der natur gestärkt, um wieder in die zivilisation einzutauchen.
Nur jetzt, nachdem meine zeit in Kunming vorbei ist, und ich wieder österreichischen boden unter den füssen habe, ist mir allerdings bewusst, was ich abgesehen von bergen und natur noch gesucht habe. Meine identität.
Es ist schon richtig, dass ich in Qiqihar eine kopfentscheidung getroffen hatte, indem ich nach Kunming gegangen war. Ich hatte gelesen, dass in Yunnan 26 !!! der 56 chinesischen volksgruppen leben. Ich hatte erwartet, dass diese vielfalt erstens interessanter als die Han-monokultur des nordens sein würde, und zweitens hatte ich erhofft, mich leichter in die gesellschaft integrieren zu können, nicht mehr spinne unter ameisen sein zu müssen, sondern vielleicht nur ein käfer unter vielen anderen.
Ich machte dann auch mit vielen volksgruppen bekanntschaft. Auf einer reise in den nordenwesten Yunnans lernte ich Tibeter in der umgebung von Zhongdian, Naxi im gebiet von Lijiang und Yi verstreut in der atemberaubenden bergwelt dazwischen kennen. Auf einer anderen reise in den nordenosten Yunnans verweilte ich für eine woche am Lugu-see bei den Mosu, einer der letzten matriachalisch organisierten gesellschaften auf der erde und erlebte das fackelfest der Yi in Ninglang. In Xishuangbanna sah ich Dai, Wa und Jinpo, und in Dali am Erhai-see die Bai volksgruppe. Nur 70km nördlich von Kunming besuchte ich ein Miao-dorf und feierte einen christlichen gottesdienst mit den einheimischen.
Während ich aber von all diesen volksgruppen nur oberflächliche eindrücke erhalten habe, von denen die meisten in meinem gedächtis bereits verblichen sind, und schnell bemerkte dass mich mit ihnen, genauso wie mit den Han nur die tatsache verbindet, derselben säugetiergattung homo sapiens anzugehören, bleiben tiefe spuren von jenen menschen, mit denen ich die reisen unternommen habe bzw mit denen ich in Kunming in ständigem kontakt war. Und ich erkenne jetzt, dass drei menschen stellvertretend für viele andere von besonderer bedeutung für meinen identitätsfindungsprozess während dieser zeit waren.
Erstens mein australischer freund Martin Dull, in dessen person ich einerseits die gemeinsamen kulturellen wurzeln der „alten westlichen welt“ Europa und der „neuen westlichen welt“ Australien besser verstehen lernte, aber andererseits auch nach und nach feststellen musste, dass kulturelle identität nicht nur in der vergangenheit, sondern vielmehr in der gegenwart zu finden ist. wenn sich die englischsprachige Kunming expats-gemeinschaft zB am abend traf, dann schwenkten die themen zu fortgeschrittener stunde immer in regionale ebenen. Da wurden witze gemacht, die ich nicht verstand, weil ich die menschen, um die es ging nicht kannte, da wurde über politik und kunst gesprochen, von der ich keine ahnung hatte und mit der mich nichts verband. Und so war ich auch in jenen gesellschaften immer ein aussenseiter, der zwar die englische sprache verstand, aber trotzdem nicht dazugehörte.
Zweitens ist mein holländischer freund Gus van den Kellen von hervorzuhebender bedeutung. Ich lernte ihn kurz nach meiner ankunft in Kunming ebenso „gestrandet“ im cafe „Journey to the East“ kennenlernte und er wurde mein engster freund und wegbegeiter „südlich der wolken“. Durch ihn wurde ich mir meiner europäischen identität wieder bewusst. Denn im unterschied zu Matthew verband mich mit Gemme neben der vergangenheit auch die gegenwart in einem weit grösseren ausmass. Wir waren zwei „continentals“, festland-Europäer, mit ähnlicher geschichte und ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, mit ähnlichen träumen und wünschen.
Und drittens der Südtiroler Andreas Wachtenberger, mit dem ich nach langem entzug wieder in meinem mir so entfremdeten dialekt reden durfte, und der mir so ans herz gewachsen ist, dass ich ihn im wahrsten sinne des wortes „Gege“, chinesisisch für „älterer bruder“, nenne. Der kontakt, die freundschaft zu Andi, machte mir erst so richtig klar, was der elementarste inhalt von identiät für einen homo sapiens ist; zumindest für mich: die sprache. endlich konnte ich mich wieder fallen lassen, und reden, wie mir der schnabel gewachsen war. Keine maske musste ich mehr aufsetzen, ich konnte einfach so dahin palabern, was mir gerade einfiel, ich verstand alles, was er von sich gab, und konnte alles ausdrücken, was ich gerade im sinn hatte. Am schönsten war es, den schmäh laufen zu lassen. Denn, erst, wenn man witze machen und verstehen kann, wenn ironie, sarkasmus und zynismus kein problem sind, erst dann beherrscht man eine sprache und fühlt sich vollkommen zu Hause. Und dieses zu Hause habe ich eben nur im Deutschen. Ich musste mich nicht mehr mit Mandarin kreuzweggleich plagen, und ich musste auch nicht mehr vorgeben, wie ein muttersprachler im englischen parlieren zu können. Alles Sprach-identitäten, die ich nur aufgesetzt hatte, weil ich zur eigenen nicht stehen konnte.
Was ist also identität, oder anders gefragt, wie entsteht identität? Sprachliche identität. Nationale identität. Sexuelle identität. Indiviuelle identität. Kollektive identität. Ist sie für uns nicht schlechthin etwas starres, unveränderliches? der Daoismus hat mir in China gelehrt, dass identität grundsätzlich etwas ständig in veränderung befindliches ist. so wie auch schon der „griechische daoist“ Heraklit gesagt hat, fliesst alles, und somit auch die identität. Sie kann nicht festgenagelt werden, und ein mensch kann nicht ein leben lang mit derselben identität herumziehen. Wir unterliegen einer ständigen veränderung, einer konstanten metamorphose.
Genau so eine metamorphose bemerkte ich auch auf der Seidenstrasse diesen sommer auf einer nationalen ebene. So war China für mich besonders nach meiner Zeit im Norden ein land gewesen, das zumindest auf der Landkarte in rotem glanzlack dargestellt wird. Ein einheitlicher kontinentgleicher, kommunistischer riese von land. Der kontakt mit den unzähligen ethnien entlang unserer route rieb diesen glanzlack auf und hinterlies vor meinem geistigen auge ein aquarell, das zwar vom osten her noch immer dick rot erscheint, aber nun vom westen einen gewaltigen anstrich islamischen grüns hat. Uighuren, Tatschiken, Kirgisen, Kasachen, alles Völker, an denen zwar das zeitalter des nationalstaates vorbeigegangen ist, aber die in ihrer gemeinsamen religion, dem Islam, in Sprache und Brauchtum ihre eigenständigkeit haben. dort im äussersten westen Chinas bemerkte ich auch plötzlich, dass China defacto ein nationales konstrukt ist wie die ehemalige Sowjetunion. Die ähnlichkeit ist verblüffend, denn manche volksgruppen, wie Kirigisen und Kasachen, waren bzw sind wirklich in beiden Ländern vorzufinden. Doch im unterschied zur Sowjetunion, die auseinanderbrach, so wie einst die österreichisch-ungarische vielvölker-monarchie, kratzte die politische führung der volksrepublik China die kurve, indem sie unter dem mantel des weiterhin herrschenden kommunismus die marktwirtschaft einführte. Auch wenn es noch immer fünfjahrespläne gibt, und im ökonomischen sinne sicherlich von keiner reinen marktwirtschaft gesprochen werden kann, so kann man genauso wenig von planwirtschaft sprechen. China liegt nun irgendwo zwischen diesen beiden systemen, und egal welcher volksgruppe die 1,3 milliarden „chinesen“ angehören, sie werden über kurz oder lang von diesem system aufgesogen und genauso wie in den westlichen industrieländern durch das farbbecken der „konsum-kultur“ gezogen. In städten wie Urumuqi erkennt man beinahe keinen unterschied mehr zwischen den urbanen Han und den urbanen Weiwuer (Uighuren). Sie kleiden sich gleich und sie gehen ähnlichen tätigkeiten nach. Was die volksgruppen in entlegenen gebieten abgesehen von der sprache voneinander unterscheidet, nämlich va die ess-kultur und die traditionellen handarbeitsfertigkeiten, wurden aufgegeben und durch konsum ersetzt. So verbringen moderne Uighuren ihre abende ebenso wie die Han vor dem fernsehgerät, anstatt wie früher beim weben von teppichen oder beim besticken von tüchern.
Genauso wie wir zumeist einen Mars riegel beim Billa kaufen anstatt selber einen guglhupf zu backen, oder Pizzamann anrufen anstatt selber in der küche zu stehen. Konsum statt schöpfung kennzeichnet die neuen post-nationalen vom markt geprägten identitäten.
Als ich mit meiner schwester vergangenen Feber von Kunming nach Dali reiste, da nächtigeten wir auf 2600m in einer kleinen hütte über dem Erhai-see, die von einem 60jährigen Iren gekauft worden war, und die er von zwei Han und einer Bai-frau bewirtschaften lies. Im gemeinschaftsraum der hütte ermöglichte eine riesige fensterfront einen wunderbaren ausblick auf den see, wo wir uns am abend vom aufstieg erholten und am nächsten morgen beim frühstück einen wunderbaren sonnenaufgang erleben durften. In der mitte war ein holzofen eingeheizt, an dem wir uns aufwärmten. Und unter den büchern, die der hausherr in die regale gestellt hatte, fand ich eine uralte ausgabe – ich glaube vom ende des 19jh- einer englischen ethnologischen ezyklopädie. ich nahm alle fünf oder sechs bände aus den regalen und schleppte die mörderschinken an den tisch, an dem meine schwester saß. Dort blätterten wir und staunten über die colorierten bilder von afrikanischen stämmen mit speer und schild, über diese und jene asiatische volksgruppe in lendenschurz, über eskimos im pelz und was weiss ich für horden von irgendwelchen kleinen inselgruppen im südpazifik und auf neukaledonien. „Deutsche“ gab es nicht, sondern es wurden die volksgruppen der Sachsen, Bayern, Schwaben etc aufgezählt und in zünftigem gewand abgebildet. Im nachhinein war jedoch der interessanteste eintrag jener über Österreich. Die ezyklopädie sprach nämlich nicht von „Österreichern“, auch wurde nicht der typische „Österreicher“ beschrieben, sondern es wurden verschiedenste „bergstämme“ dargestellt, die alle ihre eigene tracht und eine besonderes brauchtum hatten.
Dieser kleine einblick in dieses anschauliche werk zeigte mir, dass wir die heutigen „Österreicher“ auch nur die verschmelzung von verschiedenen kleinen volksgruppen sind, und auch in Österreich sowohl nationale wie auch individuelle identität einem ständigen wandel unterliegt. In gewissem sinne ist die entwicklung in Österreich bzw. Europa jener Chinas um etwa 50 Jahre voraus. Aber im grunde geht nichts anderes vor. wir wachsen schön langsam zu einem vereinten Europa, während die völker im gebiete Chinas – wenn auch unter anderen voraussetzungen – zu einem viel grösserem konglomerat mit eigener „transnationaler“ identität zusammenwachsen. Wachsen. Ja, wachsen, denn wir alle sind teile, wurzeln, sprosse triebe, äste, teile eines unglaublich grossen gewächses, das wächst und wächst, und in nicht allzu weiter ferne wird es nur mehr eine einzige „globation“ geben, und jeder einzelne muss sich seiner selbst immer bewusster werden, um nicht identitätslos dazustehen. Denn hinter den masken der nation oder einer tracht wird man sich nur mehr im fasching verstecken können. Selbst wenn markenprodukte und trendartikel neue fassaden bieten, so wird man dahinter keine ataraxia, keine innere ruhe finden.
Zumindest ich nicht. Identität beschäftigt mich – im hintergrund höre ich „Mei liabste Weis“ - und nur ein paar tage in Österreich, bemerke ich, dass ein gutes, altes sprichwortes mein konzept von identität am einfachsten veranschaulicht: der apfel fällt nicht weit vom stamm. Der stamm, der baum sind die vorfahren, an dessen zweige die früchte, die nachkommen, heranreifen, bis sie zu boden fallen. Wir können uns nie von unserer ab-stammung wirklich loseisen, wir müssen sie in unsere existenz intergrieren und akzeptieren. Die metamorphose der eigenen identität kann nur auf dem fundament der eigenen wurzeln voranschreiten. Und je besser und tiefer man diese kennt, umso schneller findet man den weg zu seinem wahren ich. In dem us-amerikanischen streifen „My big, fat greek wedding“, indem es um eine junge frau geht, die den übergang von ihren konservativen griechischen wurzlen zu ihrer neuen griechisch-stämmigen, aber us-amerikanisch gewachsenen identiät nicht bewältigen kann, sagt ihr bruder „wir müssen wissen woher wir kommen, aber wir dürfen uns durch unsere herkunft nicht die zukunft verbauen lassen.“ Das wissen um das Woher soll die frage nach dem Wohin nicht erschweren, sondern erleichtern.
Ich erinnere mich an einen meiner ersten chinesischen texte aus den lehrbüchern, in dem die chinesische schriftstellerin 冰心 (Eis-Herz) sagt, dass nur jemand, der lange zeit im ausland gewesen ist, weiss, was es heisst, das vaterland zu lieben. Nun bin ich wieder in meinem vaterland, und es mag ein wenig schnulzig klingen, aber das kapitel „reise in den westen“ ist für mich abgeschlossen und ein neues hat angefangen. spät, aber doch. Identität ist geheimnisvoll. Identität ist unerklärlich.