Man hört immer wieder, dass Urbanisierung für die Umwelt positive Auswirkungen zeitigen würde, weil städtische Infrastruktur zentralisiert gebaut, gewartet, und letztlich Abfälle wie auch Abwässer zentral gesammelt und aufbereitet werden können. Das wird wohl so sein, wenn man einen typischen chinesischen compound, in welchem mehrere tausend Menschen leben, mit einer Streusiedlung vergleicht, in welcher in kleinen Einfamilienhäusern eine etwa gleich große Menschenmenge lebt. Was jedoch dabei nicht in Betracht gezogen wird, ist die durch Urbanisierung ungleich größere Wandlung von Grünzonen in Verkehrsflächen, die notwendig sind, um die Menschenmassen von A nach B gelangen zu lassen. Die ungleich größeren Logistik- und Distributionseinrichtungen, die geschaffen werden müssen, um deren Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Der mittlerweile verjährte Slogan einer Handelskette, „fahr nicht fort, kauf im Ort“ wurde ursprünglich zum Erhalt von Krämerläden und kleineren Supermärkten in den Dörfern und Gemeinden Mitteleuropas geprägt. Er trifft in gleichem, allerdings pervertierten Maße auf chinesische Städte zu, in welchen Konsumenten ihre Stadt nicht mehr verlassen müssen, weil sie dort alles bekommen. Die Qual der Wahl lässt sie jedoch oft lange Wege innerhalb der Stadt, Verkehrsinfarkte und lange Wartezeiten an den Kassen der Hypermärkte in Kauf nehmen. Die Ende Juni 2012 eröffnete erste Metrolinie Kunmings kann der Abgasbelastung noch nicht entgegenhalten, und heimische Freunde gestehen uns, dass selbst bei zügigem Ausbau der öffentlichen Verkehrsnetze, man weiter auf einen fahrbaren Untersatz angewiesen sein wird. Der Einsatz des privaten Vehikels wird allerdings immer mühsamer, erzählt uns Li Lukang, eine Kunminger real estate Maklerin. Vor fünf Jahren habe sie nur 20 Minuten für den Weg von ihrer Wohnung in das Büro gebraucht; mittlerweile benötigt sie eine Stunde für dieselbe Strecke von etwa 10 Kilometern. Auf der zweiten Ringautobahn herrscht quasi 24/7 Stau, und auch wir, die wir uns einen Mietwagen geleistet haben, um die 8 Stunden Bahnfahrt nach Dali mit Kind und Kegel zu halbieren, rutschen in ein Verkehrschaos, welches seinesgleichen selbst in Shanghai oder Beijing sucht. Über Beijing witzelt zwar ein jeder Chinese, der schon einmal dort gewesen ist, da dieses berechtigterweise seit ein paar Jahren einen Zweitnamen trägt. Peking ist als Hauptstadt Chinas das 首都 | shoudu | die erste Stadt des Landes. Als Stadt des akuten Verkehrsinfarktes ist sie jedoch als 首堵 | shoudu | erste Stadt des Staus bekannt. Gleiche Aussprache aber andere Bedeutung. Nach zwei Stunden des vergeblichen stop and go geben wir unseren ursprünglichen Ausflugsplan auf und nehmen die erste Abfahrt von der Autobahn, die uns auf eine ebenso verstopfte Schnellstraße führt auf der wir nach einer weiteren halben Stunde in einen Schotterweg abbiegen, um dem Blechgeschiebe zu entkommen. Mit etwas navigatorischen Künsten schaffen wir es über Stock und Stein zurück Richtung Stadtzentrum, wo wir eine weitere Stunde im trägen Verkehr zubringen bis wir wieder in unserem Hotel am 翠湖 | cuihu | Emerald Green Lake erschöpft ankommen. Never again schwören wir. Doch bereits zwei Tage später erleben wir eine andere Facette der neuen Mobilisierung Chinas. Die für drei bis vier Stunden angesetzte Autofahrt von Kunming nach Dali verdoppelt sich, weil wir zwei Mal sage und schreibe jeweils etwa zwei Stunden mitten auf der Autobahn zu einem total Halt kommen. Was tut man also in dieser für China ungewohnten Situation? Man steigt aus. Pinkelt hinter einen Busch am Straßenrand. Hilft den Kindern ebendieses Bedürfnis zu befriedigen, und stellt dabei fest, dass nicht unweit vom eigenen Haltpunkt direkt an der Autobahn ein improvisierter KFZ Reparatur Laden Geschäft aufgeschlagen hat. Ein Toyota Crown parkt am Pannenstreifen und lässt sich das Radwerk rundumerneuern. Ein Jinbei Kleinbus steht in Warteposition, um gewaschen zu werden. Die Bedienung erfolgt von einer schäbigen Hütte aus, die auf der anderen Seite des fünf Meter hohen Grenzwalls zwischen Autobahn und übriger Landschaft eingerichtet wurde. Da ich dort nicht wenige Ersatzteile und ein durchaus professionelles Assortiment von Werkzeug sichte, drängt sich der Verdacht auf, dass es sich entweder um einen regelmäßigen oder in hoher Frequenz auftretenden Stau handelt. Eine kurzerhand mit dem gelangweilt aussehnenden Lenker des Fahrzeuges vor uns aufgetane Konversation klärt den Sachverhalt auf. Herr Chen ist diese Strecke mehrmals pro Woche unterwegs, sagt er mir, während ich versuche seine Augen hinter der verspiegelten Sonnenbrille im police-look ausfindig zu machen. Derartige Staus sind eine fast tägliche Erscheinung und ich solle mir keine Hoffnung machen, mindestens 90 Minuten werden wir stehen ohne dass sich das geringste tut. Aber was sei denn nun der Auslöser für den Stau, will ich wissen. Es sind die in dieser Gegend unerfahrenen LKW Lenker, die nicht wissen, dass das Bremswasser ihrer Kollegen vor ihnen auf der Autobahn vor allem in der Nacht und auch in den frühen Morgenstunden gefriert. Wenn sie dann auf den manchmal für eine Autobahn steil abschüssigen Streckenteilen bremsen, kommt es mit ziemlich großer Regelmäßigkeit zur Unfällen auf dem entstandenen Glatteis. Dr. Wang, zwei Autos vor mir, Chirurg an der Universitätsklinik von Dali, erzählt mir dass er mit einer Gruppe von Ärzten in Kunming gewesen sei, um medizinische Waren einzukaufen. Die Unfalllenker würden nicht selten in sein Krankenhaus eingeliefert werden.
Unter welchen Umweltbedingungen würde ich China verlassen? Sollte sich Shanghai in ihrer Luftqualität jener Beijings annähern, so wäre ein Grund gegeben, meine Sachen zu packen. Jüngste veröffentlichte Messungen der Beijinger Luftqualität haben von einem PM 2.5 Wert[ii] von über 700 gesprochen. Ähnlich wie in den jüngst neu eingeführten Skalenbereichen für Hitzeerscheinungen in Australien, müßte die bis 500 reichende PM 2.5 Skala für Beijing neu erfunden werden. Nun ist es bereits eine Besonderheit, dass man in Printmedien realitätsnahe Werte liest bzw von gesundheitsschädlichen Situationen als betroffener Bürger informiert wird. Die von der US Botschaft in Beijing veröffentlichten PM Messungen werden regelmäßig blockiert, der weibo Blog gesperrt. Dass chinesische Printmedien absurd hohe Zahlen selbst eingestehen ist ein Novum.[iii] Die Unklarheit über gesundheitsschädliche Umweltbelastungen und die Trägheit, mit der etwas dagegen unternommen wird, ist jedoch ein ständiger Wegbegleiter eines Lebens in China.
首堵还是雾都 - Staustadt oder Smogstadt
Nachtrag: Die oben stehenden Zeilen sind Anfang 2013 enstanden. Wir schreiben nun Dezemer 2013 und zu meinem Entsetzen sind die Feinstaubwerte Shanghais in den vergangenen zwei Wochen um ein Vielfaches schlechter gewesen als in Beijing. Während im Jänner dieses Jahres als in Beijing Rekordwerte von 900 µg Feinstaub gemessen wurden, erreichte Shanghai nie mehr als 250 - nichts desto trotz verbrachten unsere Kinder drei Wochen durchgehend ihre Kindergartenstunden indoors, um den hohen Werten nicht ausgesetzt zu sein, und die Elternvertretung schaffte einen air purifier an. In den vergangenen zwei Wochen hat sich das Blatt gewendet. In Shanghai wurden historische Höchstwerte gemessen - die höchste Zahl wurde von meinen Mitarbeitern aus dem Bezirk Putuo vermeldet: 726 µg. Aber selbst Durchschnittswerte waren für mehrere Tage weit über 400 µg. Während man über Beijing seit Jahren als Staustadt scherzt, hat Shanghai nun den Beinamen Smogstadt erhalten. Selbst heute Sonntag waren die Werte Shanghais ungesund. Man hört, dass sich die Umweltbedingungen in den kommenden zehn Jahren nicht verbessern, sondern verschlechtern werden.
[i] http://derstandard.at/1356426303365/Auf-China-lastet-grosser-Reformdruck
[ii] http://en.wikipedia.org/wiki/PM10
[iii] http://africa.chinadaily.com.cn/china/2013-01/19/content_16143425.htm