Es muss schon einige Zeit her sein. Einer dieser Abende an denen man entspannt zuhause herumlungert und einen Winterabend mit einer Tierdokumentation verbringt, sich darin versenkt und die Worte des Sprechers in sich wiederhallen findet. Es ist gut möglich, dass mich mich hier an einen der wenigen fixen Programmpunkte meiner Wiener Fernsehwelt erinnere, Universum, welches immer an Dienstagen im Hauptabendprogramm ausgestrahlt wurde. Es mag auch sein, dass der Tonfall des Sprechers durch meine Erinnerung verzerrt ist. Jedenfalls erinnere ich mich an einen unglaublich trockenen, sachlichen Kommentar, der wenig poetisch, wenig lyrisch, wenig irgendeiner menschlichen Erregung erkennbar, den langen Weg von jungen Lachsen im Oberlauf eines Flußes in Alaska bis in den Pazifik begleitet und diese nunmehr erwachsenen Fische denselben Weg zurück an ihren Geburtsplatz zum Laichen ihrer eigenen Nachkommen verfolgt. Monoton schildert der Sprecher Hürde um Hürde, die diese Fische nehmen müssen. Räuber des Meeres. Tosende Gezeiten. Schiffsverkehr. Eine Fischerarmada, die mit Sonarradar und Riesennetzen bewaffnet, ein Durchkommen unmöglich erscheinen läßt. Stromschnellen, die zu überspringen sind. Freizeitangler, deren Köder verlockend sind. Bären, die mit offenen Mäulern in seichten Oberläufen warten. Ausgetrocknete Nebenläufe, die wie Sackgassen im Wege stehen. Jede Hürde fordert ihren Zoll. Jede Hürde verkleinert die Gruppe der Weiterkämpfenden. Ein Überlebenskampf. Ein Existenzkampf. Um die eigene Existenz? Nein. Um die der Nachkommen. Denn die wenigen Lachse, die ihr Ziel erreichen, den Oberlauf irgendeines klaren Flusses im Norden des amerikanischen Kontinents, in dem sie selbst eine oder mehrere Saisonen früher das Licht der Lachswelt erblickten, pressen sie mit letzter Anstrengung ihren Laich hervor und wie in einer Ironie der Schöpfung hauchen sie ihren letzten Kiemenzug und sinken leblos zu Boden. Der Sprecher spricht von Fakten. Nicht die kleinste Regung in seiner Stimme, die schildert, dass ein erfolgreicher Lachs von Geburt bis zum Tod mehrere tausende Kilometer zurückgelegt hat und es ein Rätsel ist, wie dieses Tier seinen Geburtsplatz wiederfindet, warum es einen Gutteil seines Daseins mit dieser langen Reise zum eigenen Tod und der Geburt des eigenen Nachwuchses auf sich nimmt.
Chinesen glauben, dass der individuelle Status in der Gesellschaft von fünf Faktoren beeinflusst wird: Schicksal, Glück, Bildung, Charakter und Fleiss.[1] Dass Bildung der allergrößte Stellenwert beigemessen wird, konnte ich an einem Dezember Samstag durch die Teilnahme an einem open house event in einer Shanghaier experimental school erneut feststellen: Die 包玉刚 | Y. K. Pao Schule öffnete ihre Pforten für interessierte Eltern. Nur einer von mehreren Samstagen, an dem das Schulgelände von interessierten chinesischen Eltern geflutet wurde. Plötzlich war ich Teil dieses erdrückenden Strebens um den besten Startplatz für den Nachwuchs. Einer der dynamischsten Biologismen des Lebens spielte sich vor meinem geistigen Auge ab: der Kampf um den erfolgreichen Erhalt der eigenen DNA. Hier in Shanghai wird er an der menschlichen Spezies so deutlich wie selten irgendwo.
Seit Monaten beschäftigt mich und meine Frau das Thema Bildung mehr als sonst, da unser erstgeborenes Kind im September 2014 schulpflichtig wird. Verständigungen unserer Heimatgemeinde haben uns bereits im September 2013 darauf aufmerksam gemacht, dass bis November des Jahres die Wahl für eine Volksschule getroffen werden muss. Einige Monate davor wurden wir informiert, dass in Österreich im letzten Jahr vor der Schulpflicht, Kindergartenpflicht besteht, und wir als gesetzliche Vertreter unseres Kindes straffällig würden, sollten wir dieser Pflicht nicht entsprechend nachkommen. In China muss man die Schulpflicht niemanden mehr mit Strafe androhen – der durchschnittliche Dreijährige hat bereits ein Zusatzprogramm zum regulären Kindergarten wie ein deutscher Mittelschüler zu absolvieren. Nicht selten werden Kinder in bilingualen Institutionen untergebracht, haben aber dennoch extracurriculär Englisch, Ballet und Geige zu lernen. Einer meiner ehemaligen Mitarbeiter, Li Yun, erzählte mir erst jüngst, dass er mit seiner dreieinhalbjährigen Tochter drei Mal die Woche zum Englischunterricht geht. Dort sitzt er dann mit unzähligen anderen Eltern, die meistens am Handy spielend darauf warten, daß sie ihren Spross wieder mit nach Hause nehmen dürfen.
Obwohl wir uns auch für Österreich einen einfachen, ersten Schritt im Bildungssystem als Alternative zu China überlegt hatten beschäftigt uns die Qual der Wahl in Shanghai in einem vielfach komplexeren Ausmaß. Die Schulpflicht markiert einen wichtigen Punkt in unserer Verquickung mit der chinesischen Gesellschaft, da wir uns im Vorfeld entscheiden müssen, ob wir unseren Nachwuchs durch die Schulbildung Chinese oder foreign-Chinese sozialisieren lassen wollen. Wir haben unzählige Gespräche geführt, etliche Schulen besucht, online recherchiert, und uns letztlich – für eine deutschsprachige Familie – für einen etwas unüblichen Weg entschieden, welcher aber unsere Situation genau widerspiegelt.
Die Qual der Wahl
Manchmal frage ich mich, warum hier in China alles komplizierter sein muss, als dies zuhause ist. In Wien wären einige wenige Schulen zu Auswahl gestanden, die das städtische Magistrat je nach Wohnadresse vorab empfiehlt. In meinem Heimatdorf wäre überhaupt nur eine Schule für uns in Frage gekommen. Erledigt. Wer etwas höher hinaus will, kann unter wenigen Privatschulen wählen, die eine bilinguale, deutsch-englische, Ausbildung anbieten. Aber mehr gibt es nicht – zumindest was die Grundschule bzw primäre Bildungsstufe betrifft.
Im third culture Kontext wird die Wahl der Grundschule ein nicht zu unterschätzendes Unterfangen. Die Deutsche Schule bildet das eine Extrem im weiten Spektrum an zur Verfügung stehenden Optionen, da sie aufgrund der gesetzlichen Vorschriften Chinas nicht als Begegnungsschule geführt werden darf, wie dies die deutschen Schulen in anderen Ländern so an sich haben. MaW ist ein Kind an der deutschen Schule in einer vom Gastland abgeschnittenen Subkultur untergebracht. Kinder mit chinesischen Reisepässen ist es nicht gestattet, den Unterricht an der deutschen Schule zur verfolgen. In einem derartigen Kontext wird schnell bewusst, dass Bildung in China einen Zweck verfolgt: das Volk völkisch zu konditionieren. Alle Untertanen haben sich der einheitlichen Indoktrination des Staates zu unterwerfen und zu allererst jeden Tag beim hissen der chinesischen Staatsflagge die Nationalhymne zu singen. Allein dieser Gedanke lässt die meisten ausländischen Eltern von einer lokalen Schule absehen. Allerdings würde ich, sollte es erlaubt sein, chinesischen Eltern ebenso wenig empfehlen, ihr Kind an die dt. Schule zu schicken. Es gibt bessere Alternativen. Für ein österreichisches Kind ist die deutsche Schule eine oberflächlich betrachtet naheliegende Wahl, allerdings vergisst man in dieser Oberflächlichkeit, dass der Österreicher nur in der Sprache dem Deutschen ähnelt, ihm jedoch kulturell wie der Tag zur Nacht ist. Geschichten, dass österreichische Kinder wegen ihres Akzentes von den in der Überzahl befindlichen deutschen Mitschülern gehänselt und gemobt werden tragen einer positiven Entscheidung ebenso wenig bei, wie der Umstand, dass die deutsche Schule in der Einhaltung der Unterrichtszeiten als lasch gilt. Es wird berichtet, dass sich Lehrer ohne driftigen Grund gerne Krankenstand nehmen und Ferienzeiten geradezu beliebig ausgedehnt werden.
Die teuersten Schulen der Welt
Dies führt mich zum Projekt eines Freundes, der gemeinsam mit einem Bildungsexperten eine rein englischsprachige website aufgesetzt hat, welche internationale Schulen in Shanghai für ein ausländisches Publikum erklärt. Mittlerweile Gewinn schreibend zahlen ihm die Schulen für ein umfangreiches Bewerben ihrer Bildungskompetenz. Wenn der Arbeitgeber sponsort, dann ist davon auszugehen, dass die Entscheidungskalküle nicht beim Preis zu suchen sind, sondern beim bequemen Wiedereinstieg in das heimatliche Schulsystem sowie der Internationalität. Wer jedoch genauer hinsieht, so wie wir, die wir die Schulkosten zumindest teilweise selbst tragen müssen, der beginnt wie im Supermarkt die Kilopreise der verschieden abgepackten Joghurt- oder Briesorten den Preis pro Schultag miteinander zu vergleichen. Generell gesprochen kosten internationale Schulen in der Primär- und Sekundarstufe zwischen CNY 120k und 220k. Im Detail ist jedoch immer die Anzahl der Ferienwochen in die Kalkulation miteinzubeziehen. Schulen, die im Grundpreis billiger sind aber im Gegenzug 4-5 Monate im Jahr geschlossen, kommen am Ende des Schuljahres teuer, insbesondere wenn eine Schulstufe bei Rückkehr in die Heimatgesellschaft wiederholt werden muss.
Nicht nur wegen der Zusatzkosten für Schulbusse, Ausflüge, etc. gelten internationale Shanghaier Schulen mittlerweile als die teuersten der Welt. Obwohl das Angebot steigt, gehen die Preise nicht nach unten, sondern steigen weiter. Der Grund hierfür ist simpel: das steile Wirtschaftswachstum Chinas. Sowohl ein Großteil der Fortune 500 Unternehmen hält sich eine executive Belegschaft mit Familienanhang in der Yangtze Metropole wie auch eine steigende Zahl von reichen Chinesen lassen ihre Sprosse zukunftsträchtige Ausbildungsstätten besuchen. Der Bildungsmarkt boomt wie kein anderer, denn: es wird nicht mit Dingen, sondern mit Menschen gehandelt. Und da will man an nichts sparen. So passiert es auch, dass ein Turnplatz kurzerhand mit einer Anti-Smoghalle überdacht wird, wie jüngst in Beijing, um den zarten Nachwuchs vor den nachteiligen Umwelteinflüssen zu schützen.
Eine Goldene für die Schüler Shanghais in der PISA Studie
Die jüngste PISA Studie 2012 wurde erstmals in der lokalen Presse ausführlich dargestellt und ließ einen Bewohner Shanghais aufhorchen: Shanghais Schüler erreichten in der Studie wie schon 2010 die oberste Stufe des Stockerls, und zwar in allen drei geprüften Gegenständen: Wissenschaft, Lesen und Mathematik. Seriöse Kommentatoren meinen, dass dieses Ergebnis nicht für China repräsentativ ist, da in Shanghai sowohl die Elite der Bevölkerung wie auch die Elite des Schulsystems zu finden ist. Der Platz 1 ist Faktum, kann aber neben elitären auch direkt auf einen unglaublichen Verdrängungswettbewerb zurückgeführt werden. Welche andere Stadt hat eine 1.3 Milliarden Bevölkerung als Talentepool zur Verfügung?
Auf baidu.com wird das alle drei Jahre stattfindende Ranking wie folgt dargestellt. Interessanterweise schreibt die OECD auf ihrer website, dass China durch Shanghai, Hongkong und Macao vertreten war. Baidu zählt selbstverständlich auch Taiwan hinzu.
Als unseriöser Kommentator nehme ich mir heraus zu fragen, was Shanghaier Kinder anderes tun können als die Schulbank zu drücken? Die Stadt ist ein idealer playground für Praktikanten, Studienabgänger und Berufseinsteiger mit einem beinahe nicht zu übertreffenden Bar- und Nachtleben, bietet aber für bis zu 16 Jährige reichlich wenig. Abgesehen von der wieder einmal zu erwähnenden Luftverschmutzung, die einen jungen Menschen nicht gerade motiviert ins Freie zu stürzen und das runde Leder zu treten, gibt es in Shanghai reichlich wenig, was einen typisch westlich konditionierten Jugendlichen interessieren würde. Der 14 jährige Sohn einer Mitarbeiterin ist vor kurzem nach einem Jahr in Shanghai wieder nach Deutschland zurückgegangen, ein Jahr vor dem Vertragsablauf seiner Mutter, weil er seinem Lieblingshobby, dem Wasserskifahren nicht nachkommen konnte. Wer es gewohnt ist, zumindest an den Wochenenden in die Berge wandern zu gehen oder täglich einem sauberen Gewässer entlang eine morgendliche oder abendliche Joggingstunde einzulegen, wird in Shanghai ebenfalls enttäuscht. Ruderer wie Mountainbiker, Kletterer wie Skifahrer sind in Shanghai ihrer Betätigungsräume entfremdet. Wer es also nicht schafft sich für eine der lokal angebotenen Freizeitbeschäftigungen zu interessieren, der wird physisch, haptisch, motorisch verkümmern oder etwas zynisch formuliert, supertoll in den PISA Prüfungen abschneiden.
Rohdiamanten, die zu stumpfen Murmeln geformt werden
Im wunderschönen Salzburger Land vor zwei Jahren auf Sommerfrische, kam ich im Zuge einer Wanderung aus einem Waldstück, welches nebenbei erwähnt mit einer Unzahl von Eierschwammerl übersät war, und blieb wie angewurzelt ob des mit bietenden Bildes stehen. Das Tal sich vor mir erstreckend, sass ein etwa 8 Jähriger auf der Kanzel eines schweren Traktors der mit einem Kranarm ausgestattet Tannenbäume verlagerte und mit einer Motorsäge von Ästen befreite, sowie in für den Ladeanhänger richtig dimensionierte Stammlängen zuschnitt. Der Vater stand unten neben dem Traktor, eine Zigarette in der einen Hand und mit der anderen dem Sohn Anweisungen gebend. Vielleicht weil ich schon zu lange in China lebe, machte mich die Szene sehr nachdenklich und beschäftigte mich den gesamten Weg zurück zu unserer Unterkunft, einem auf 1200 Meter Seehöhe gelegenen Bergbauernhof.
Das Streben vieler Eltern, vor allem in asiatisch-konfuzianisch orientierten Gesellschaften, ihre Kinder in den besten Schulen unterrichten zu lassen, um endlich in den weltbesten Universitäten einen Abschluss zu erreichen, ist ein Streben, welches in der Essenz Rohdiamanten zu stumpfen Murmeln formt. Millionen von Kindern werden in Bildungsanstalten denselben Lehrplänen ausgesetzt. Bildung im Schema F. Das Bildungssystem wird nicht in Frage gestellt – Ziel ist, innerhalb des Systems das klügste, beste, schnellste Kind zu erziehen. Indem wir unseren Lebensmittelpunkt nach Shanghai verlagert haben, haben wir unsere Kindern zu einem Teil dieses Systems gemacht.
Schon Lin Yutang schrieb in MCAMP: Perhaps the Chinese offical candidates are a greater pest to society than the American Ph.D’s. Both of them pass an examination which means no more or less than that the candidate has done a certain amount of drudgery with mediocre intelligence, both of them want the rank for purely commercial reasons, and both oft hem have received an education which totally unfits them for anything except the handling of books and the peddling of knowledge.
Individuelle Bildung als Teil eines volkswirtschaftlichen Planes
In meinen ersten Jahren in China, die ich drei Jahre lang unterrichtend an verschiedensten Bildungsinstitutionen Anfang der 2000er verbrachte, war mein wesentlicher Eindruck, dass chinesische Schulen einen wesentlichen Zweck verfolgen: die Energie der Jugend kontrolliert zu unterdrücken. Spätestens seit 1989, aber mit großer Wahrscheinlichkeit schon früher, weiß die KPC, das in der jugendlichen Kraft der Mittelschüler und Studenten, die noch nicht von den Aufgaben der Berufstätigen und Fürsorgepflichtigen unterjocht ist, eine große Gefahr für den Staatsapparat ausgeht. Bildungsinstitutionen sind daher in China als Bildungsanstalten aufgesetzt. Lange Unterrichtszeiten von 6:30 morgens bis 21:00 abends verwehren es Mittelschülern Energie für irgendeine andere Form der Beschäftigung aufzuwenden. Die höchst kompetitiven Gaokaos, die vor allem für die Landbevölkerung die einzige Chance für einen sozialen Aufstieg darstellen, sind der ausschliessliche Fokus für das Streben eines jungen Chinesen.
Ich gebe zu, dass sich in der vergangenen Dekade am Anstaltscharakter einiges geändert hat. Nicht in der Breite, aber zumindest in Ansätzen. Einerseits orientiert sich China in Bildungsfragen stark an Singapur, welches mit einer erstklassigen Bildungspolitik, das Fundament für eine Innovationsstarke (Mini-) Gesellschaft gelegt hat. Insofern sind chinesische Lehrpläne einem volkswirtschaftlichem Ziel unterworfen, welches jede Regierung predigt, die Innovationskraft zum Mantra ihres Tuns gemacht hat. Wissenschafter, Techniker, Ingenieure, Architekten und Ärzte sollen ausgebildet werden. Doch nicht jedes Kind ist zum Wissenschafter geboren. Nicht jedes Kind interessiert sich für Technik. Inwieweit ich mein Kind dem Sog eines nach volkswirtschaftlichen Nutzen ausgerichteten Bildungsplan aussetze, ist eine berechtigt zu überlegende Frage. Insbesondere, wenn man individuelle Begabungen bei der Wahl der Bildungsform in den Vordergrund stellt.
Während chinesische Kinder zweifelsohne in unübertroffender Anzahl von Rohdiamanten zu Murmeln geformt werden und ihnen die wichtigsten Zeiten der kreativen Selbstentfaltung staatlich geraubt werden, tut sich interessanterweise am experimentellen Bildungssektor Chinas vieles. Ein australischer Volksschullehrer, den ich zu Silvester 2012 beim Wanderurlaub in Guangxi kennenlernte wechselte von einer privaten Volksschule für reiche Unternehmerkinder in einem Vorort Shenzhens an eine experimentelle Volksschule in Beijing. Er nahm für seine Familie samt dreijährigen Sohn die nachteiligen Umweltbedingungen in Kauf unter einem kalifornischen Schuldirektor an einem Schulversuch mitzuarbeiten, welcher seiner Aussage nach selbst in Australien undenkbar wäre. Ein Blick ins Verzeichnis der internationalen Schulen Shanghais führt vor Augen, dass Montessori,[1] Pestalozzi[2] und Waldorfpädagogik[3] keine Unbekannten mehr sind. IB Programme, die ebenfalls freies in Gruppen strukturiertes Lernen dem Frontalunterricht bevorzugen sind bereits weit verbreitet. Die bereits eingangs erwähnte Y.K. Pao Schule fährt einen Lehrplan, der an den Shanghaier angelehnt ist, aber sprachlich im ersten Schuljahr zu 70 Prozent in Chinesisch und 30% in Englisch durchgeführt wird, sich aber graduell bis hin zum Schulabschluss auf 100% Englisch als Unterrichtssprache verändert. Ziel ist hierbei, die Kinder ideal auf angel-sächsische Universitäten vorzubereiten, ohne China verlassen zu müssen und Einbußen beim Erlernen der chinesischen Muttersprache zu erfahren.
Tiger Mutter und Wolf Vater oder slow parenting?
Die Integration von alternativen westlichen Bildungskonzepten in Lehrpläne an speziellen chinesischen Schulen ist jedoch nur ein Randphänomen einer viel breiter angelegten Bildungsdiskussion, welche im Westen 2011 vor allem durch Amy Chuas Buch Battle Hymn of the Tiger Mother losgetreten wurde. Von vielen als Kulturkonflikt zwischen einem modernen westlichen Bildungszugang und einem traditionell asiatisch-konfuzianischen gesehen, geht es in der Essenz darum eine Balance zwischen der Förderung von individuellen Talenten und dem Erarbeiten von Disziplin zu schaffen. Während Amy Chua von Eltern streng zu fördernde Disziplin propagiert, repräsentiert Tom Hodgkinson mit seinem Buch The Idle Parent das andere Extrem eines elterlichen Bildungszuganges der sogenannten slow parenting Strömung. Für jede Mutter und jeden Vater gibt es jedoch Allerweltslösung. Es bleibt einem nichts anderes übrig als im Baukastenprinzip den Bildungsweg der Kinder Stein um Stein aufzubauen. Ist der Schulplan anstrengend und fordernd, so ist entspanntes slow parenting zuhause angesagt. Ist die Schule etwas freier aufgesetzt, so kann man durch strukturierte Freizeitaktivitäten im Elternhaus nachhelfen. Und im Übrigen kann man dem ganzen Bildungswahnsinn hin- und wieder den Rücken zukehren, und einfach tun, was einem intuitiv richtig erscheint.
Das Bildungssystem als Verhärter der bestehenden sozialen Kasten
Dass die Eltern neben der Schule einen unglaublich großen Einfluss auf die Zukunft ihrer Kindern haben steht außer Frage. Die Diskussion um die ideale Schulwahl wird somit in gewisser Weise ad absurdum geführt. Von der individuellen Schulentscheidung hin zu ein gesellschaftlichen Betrachtungsweise ist daher der französische Soziologe Pierre Bourdieu zu zitieren, der bereits in den späten 70er Jahren die mangelnde Durchlässigkeit der Gesellschaft kritisierte. Bildung strich er dabei als wesentlichen Katalysator der gesellschaftlichen Mobilität heraus, und propagierte eine einfache Formel für den sozialen Status: Status der Eltern multipliziert mit dem erreichten Bildungsniveau. MaW werden jene höher in der Gesellschaft aufsteigen, die ohnedies schon hoch oben sind. Der sozialpolitisch negative Effekt von Bildung wurde in China unter anderem jüngst durch die politischen Ökonomen Damien Ma und Bill Adams in ihrem Buch In a Line Behind 1 Billion People analysiert. Bildung, die an sich darauf ausgerichtet sein soll, gesellschaftliche Ungleichheiten auszugleichen, hat in China verbunden mit der hukou Politik eine klar gegenteilige Funktion: sie macht die Gräben zwischen Arm und Reich noch größer. Es sollte aber niemanden wundern, dass auch in Deutschland und Österreich Bildungskasten vererbt werden und die gesellschaftliche Mobilität im abnehmen ist.
Handlungsempfehlungen für die EU
Es bleibt im Abschluss die Frage zu stellen, wie sich die Europäischen Länder auf ein aufstrebendes Bildungschina vorbereiten sollen. Steigende Zahlen von chinesischen Studenten an internationalen Universitäten, aufstrebende chinesische Eliteuniversitäten, Millionen von chinesischen PhDs, rasant steigende Imobilienpreise in der Nachbarschaft elitärer Bildungsinstitutionen sind immense Herausforderungen für westliche Volkswirtschaften, denen gegenübergetreten werden muss. Im Besonderen muß ein Selbstbewusstsein für die abendländische Kultur geschaffen werden, welche ebenso wie die Chinesische auf eine Geschichte von mehr als 5000 Jahren zurückgehend auf die Griechen und Römer aufweisen kann. Lehrer, die ihren Schülern Lerneifer impfen wollen, indem sie so wie jener meiner dieses Jahr maturierenden Nichte sagen „wie wollt ihr mit den Chinesen mithalten“ müssen lernen, über PISA Studien hinweg die Stärken unserer Gesellschaften zu sehen und Kinder ganzheitlich zu besseren Menschen zu erziehen. Ceterum censo sericum deletandum esse.
[1] Quoted in the film: Up the Yangtze
[1] Montessoripädagogik ist ein von Maria Montessori und anderen ab 1907 entwickeltes und namentlich in Montessori-Schulen angewandtes pädagogisches Bildungskonzept, das die Zeitspanne vom Kleinkind bis zum jungen Erwachsenen abdeckt. Sie beruht auf dem Bild des Kindes als „Baumeister seines Selbst“ und verwendet deshalb zum ersten Mal die Form des offenen Unterrichts und der Freiarbeit. Sie kann insofern als experimentell bezeichnet werden, als die Beobachtung des Kindes den Lehrenden dazu führen soll, geeignete didaktische Techniken anzuwenden, um den Lernprozess maximal zu fördern. Als Grundgedanke der Montessoripädagogik gilt die Aufforderung „Hilf mir, es selbst zu tun“.
Die Montessorimethode wird oft als eine Philosophie beschrieben, die das Kind und seine Individualität in den Mittelpunkt stellt. Maria Montessori glaubte an den Eigenwert des Kindes. Vergleiche mit traditionellen Standards sind in der Montessoripraxis nicht erwünscht. Stattdessen meinen Montessori-Befürworter, dass Kinder frei lernen sollten, ohne Behinderung und Kritik. Montessori glaubte, dass sowohl Belohnungen als auch Strafen schädlich sind für die innere Einstellung des Menschen, dass Kinder ganz natürlich aus ihrer eigenen Motivation lernen wollen. Vor allem deshalb, weil es in ihrer Natur liege, am (erwachsenen) Leben teilhaben zu wollen.
Die Montessorimethode konzentriert sich als Pädagogik auf die Bedürfnisse, Talente und Begabungen des einzelnen Kindes. Montessori-Lehrer und -Pädagogen sind der Meinung, dass Kinder am besten in ihrem eigenen Rhythmus und in ihrer eigenen Art lernen. Kinder werden dazu ermutigt, das Tempo, das Thema und die Wiederholung der Lektionen selbstständig zu steuern. Dabei wird zugrunde gelegt, dass jede Abweichung vom Ideal des göttlichen Kindes eine Störung darstellt, die durch Einsatz von Lernmethoden behoben (normalisiert) werden kann.
Das Leitmotiv der Methode ist die Pflege der natürlichen Freude des Kindes am Lernen. Nach Montessori stellt diese Freude am Lernen einen Kernbestandteil des Wesens eines jeden Kindes dar. Mit Respekt und Achtung unterstützt und angeleitet, führt sie zu einer Entwicklung einer in sich ruhenden und ausgeglichenen Persönlichkeit.
Kinder, die in ihrem eigenen Rhythmus und den eigenen Interessen folgend lernen, erleben Selbstvertrauen und Selbstständigkeit und verinnerlichen das Gelernte so am besten. Selbstständigkeit wird durch die Arbeiten des täglichen Lebens (Fähigkeiten, die direkt im praktischen Leben anwendbar sind) unterstützt. Montessori-Kindergartenkinder lernen (in erster Linie durch Nachahmung) sich anzuziehen, sich selbst zu waschen, den Esstisch vorzubereiten usw. Die Kinder können sich meist selbst aussuchen, mit wem und auch woran sie arbeiten möchten. Die Montessorimethode setzt ihren Schwerpunkt dabei immer auf den Lernenden als Führer seiner eigenen Entwicklung hin zum Ideal.
[2] Pestalozzi gilt als Vorläufer der Anschauungspädagogik und der daraus Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Reformpädagogik. Sein pädagogisches Ziel war die ganzheitliche Volksbildung zur Stärkung der Menschen für das selbständige und kooperative Wirken in einem demokratischen Gemeinwesen. Die Eltern sollten befähigt werden, mit dieser Bildung im Elternhaus zu beginnen und ihren Kindern entsprechende Vorbilder zu sein. Besonderes Augenmerk richtete Pestalozzi auf die Elementarbildung der Kinder, welche schon vor der Schule in der Familie beginnen sollte. Dabei kam es ihm darauf an, die intellektuellen, sittlich-religiösen und handwerklichen Kräfte der Kinder allseitig und harmonisch zu fördern. Heute würde man sagen, Pestalozzi vertrat einen ganzheitlichen Ansatz. Der Grundsatz von Pestalozzis Pädagogik ist, ein sicheres Fundament an Elementarbildung zu legen, das den Menschen befähigt, sich selbst zu helfen (dem ähnelt das Motto „Hilf mir, es selbst zu tun“ der späteren Montessori-Pädagogik). Bei der Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten strebt Pestalozzis Pädagogik an, Kräfte zu entfalten, die bei den Schülern bereits natürlich angelegt sind. Die unvermeidliche Entwicklung dieser Kräfte wird dadurch in geordnete Bahnen gelenkt, anstatt dem Zufall überlassen. Die Pädagogik vermittelt also zwischen Natur und Kultur, genauer zwischen der natürlichen Entwicklung des Kindes und den äusseren Regeln menschlichen Zusammenlebens und muss über beide Aspekte gut informiert sein. Auf die Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter bezogen, wird dieser Ansatz inzwischen durch die Existenz von Zeitfenstern der neuronalen Reifung unterstützt, etwa dem Laufenlernen im ersten oder dem Spracherwerb im zweiten bis dritten Lebensjahr. Daraus folgt, dass Pestalozzis Pädagogik bereits in der frühesten Kindheit von den Eltern umgesetzt werden kann, wofür Pestalozzi eigens unterstützende Lernmaterialien entwickelte.
Für die Unterstützung der natürlichen kindlichen Entwicklung berücksichtigt Pestalozzi die Dreiteilung in „Kopf, Herz und Hand“, die jeweils für Intellekt, Sitte und praktische Fähigkeiten stehen. Im Bereich des Intellekts entwickelt seine Pädagogik aus den Elementarfächern Sprache, Gesang, Schreiben, Zeichnen und Rechnen schliesslich abstraktes Urteilsvermögen. Bei der Sittlichkeit bilden elementare Gefühle von Liebe und Vertrauen die Basis für höhere Fertigkeiten wie Geduld und Gehorsam bis hin zur höchsten Stufe der religiösen Gottesverehrung. Bei den physischen Fertigkeiten führen einfache Bewegungen zu ausgefeilteren Handlungen; in diesem Bereich sind Pestalozzis Beiträge jedoch weniger weit ausgearbeitet.
[3] Waldorf: Für Steiner gliedert sich der Mensch in einander verschiedene ‚Wesensglieder‘, die in verschiedenen Lebensabschnitten unterschiedlich zum Tragen kommen.[1] Die Entwicklung des Menschen erfolge in Rhythmen von ca. sieben Jahren.[2] In den ersten sieben Jahren entwickelt der Mensch seinen physischen Leib und die Sinne. Die inneren Organe werden ausgebildet. Das Kind nimmt in diesem Alter die Welt vor allem durch Nachahmung in sich auf. Dementsprechend ist die Kindergartenpädagogik stark rhythmisiert. Die Erzieherinnen beginnen regelmäßig immer mit gleichen Beschäftigungen (z.B. findet immer montags Aquarellmalen statt, dienstags wird Brot gebacken usw.) und Märchen werden so lange erzählt und vorgespielt, bis viele Kinder sie auswendig können. Das erste Jahrsiebt wird durch das Eintreten des Zahnwechsels abgeschlossen. Kinderkrankheiten sind notwendige Stationen auf diesem Weg des Kindes in seinen Körper und symbolisieren Fortschritte auf diesem Weg. In den zweiten sieben Jahren entwickelt der Mensch den ‚ätherischen Leib‘. Die Kräfte der Organbildung sind abgeschlossen und nun frei für ‚seelische Denk-, Lern- und Gedächtnisaufgaben‘. Die Ausbildung des Ätherleibes unterstützt man durch Bilder, Beispiele und durch Lenken der Phantasie. Es ist die Zeit der Wertebildung des Menschen. Steiner nennt es ‚Nachfolge und Autorität‘ - allerdings einer vorbildhaften Autorität. Dieses Jahrsiebt wird durch den Eintritt in die Pubertät abgeschlossen. Im dritten Jahrsiebt wird der ‚Astralleib‘ (emotionales Innenleben) entwickelt und damit die Fähigkeit, das eigene innere der Seele durch Introspektion bewusst und intensiv zu erleben. Die intellektuellen Kräfte bilden sich aus, es ist die Zeit der Entwicklung des eigenen Urteils. Es geht um Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Das Erziehungsprinzip ist jetzt Sachlichkeit. Erziehung nach dem 21. Lebensjahr ist vor allem Selbsterziehung. Das Ich ist entwickelt. Es hat in den vorangegangenen Abschnitten die Aufgabe, die ‚niederen Wesensglieder‘ zu durchdringen, sie umzuwandeln und ihre Entwicklung vorantreibend zu veredeln.