Eine miserable Nacht hinter mir, in welcher wir unseren erkälteten Sohn mehrmals beim Erbrechen beistehen und das Übergebene anschliessend beseitigen, begebe ich mich gegen acht Uhr mit widerstandfähigster Winterkleidung und Regenschirm auf den Weg zur Ubahn Linie 2. Es geht in Chinas eisigen Norden, nach Shenyang zu einem unserer wichtigsten chinesischen Kunden.
Abgesehen vom Nieselregen bereue ich bereits beim Eintauchen in die Shanghaier Ubahn-Katakomben, dieses Fortbewegungsmittel zum Erreichen des Flughafens gewählt zu haben, wissend dass bei Regen Taxis quasi nicht zu bekommen sind.
Jeweils zwei Schlangen stehen vor jedem Zugeingang, ich stelle mich an eine an, nachdem ich erkenne, dass bei jeder mindestens zehn Personen auf den nächsten Zug warten. Dieser kommt, nur wenige Personen steigen aus, und so kann ich mich erst in den dritten Zug quetschen, glaubend, dass hinter mir kein Platz mehr ist, drückt sich noch ein weiterer Fahrgast mit enormer Wucht in den Wagen. Einen Meter weiter steht ebenfalls in der impact zone ein etwa 40 jähriger – dem Akzent nach zu schliessen – Brite, der dem Auslöser des wuchtigen Aufpralles etwa folgendes entgegenschreit:
„You fat fucking fag! Is this really fucking necessary? Cant you take the next fucking train?“
Der Chinese erwidert etwas kleinlaut „I am late for work!“
Der Brite widerum „Then why don't you get up earlier like everybody else?“
Ich stehe währenddessen mit dem Rücken zur Fahrwagentür und sehe nur den Briten von der Seite, der nach seiner emotionellen Eruption etwas beschämt seinen Blick zu Boden senkt; jedoch sehe ich ganz klar den sich verhärtenden Gesichtsausdruck eines etwa 45 jährigen Chinesen, der sich direkt vor mir befindet.
Wenn Blicke töten könnten, wäre der Brite auf der Stelle umgefallen. Unglaublicherweise kann Mimik einen Monolog ganz von alleine formen. Der Chinese sagt mit geschlossenem Mund vor meinen Augen:
„Shut the fuck up you white piece of trash! Your race has already brought enough evil to our nation. Get the fuck out of here!“
Ich bin mir sicher, dass der chinesische Gedankengang meiner Niederschrift sehr nahe kommt, füge aber noch hinzu, dass im selben Moment mir selbst folgendes durch den Kopf geht: “Dude, das ist zwar eine verständliche, aber überzogene Reaktion! Der ist wohl erst seit kurzem in der Stadt und muss jeden Morgen nach Pudong pendeln. Na, da wär ich auch sauer. Aber dennoch, der begibt sich auf Glatteis. Irgendwann wird er richtig eine auf die Fresse kriegen. Schliesslich ist er Gast und Ausländer.“
Wie der Zufall es will, steigen der Brite und ich an der nächsten Station aus, er direkt vor mir, und ich kann es mir nicht nehmen lassen, dass ich ihm sanft von hinten anspreche:
„You should be careful with such verbal eruptions, that guy next to me looked at you as if he wanted to kill you.“
Der Brite dreht sich leicht im Gehen mit Richtung Rolltreppe um: „I am in Shanghai since more than ten years, my wife is Chinese, my two children are half Chinese. I am putting up with all this, but sometimes its just too much.“
„But sooner or later such emotions will end bad for you. Just a friendly advice.“
„Yes, you right, and the scary thing is, some years ago foreigners were well received, but since three years some Chinese look at you as if they could leash out any moment.
Ich erkenne jemanden, der in einer ähnlichen Situation ist wie ich selbst, durch Frau und Kind an ein Land und ein Volk gebunden ist, welches sich zunehmend xenophob zuträgt. Ich überlege kurz, ob ich Telefonnummern austauschen soll, sage aber dann doch nur:
„Well, have a good day then.“
Der Brite nimmt Schrittgeschwindigkeit in eine andere Richtung auf: „You too.“
Ob die zunehmende Ausländerfeindlichkeit mit zunehmenden Wohlstand, mit nationalistischer Gehirnwäsche oder schlicht mit Überbevölkerung zusammenhängt, will ich hier nicht beurteilen. Es ist jedoch Tatsache, dass es immer schwieriger wird, sich als Ausländer in China geschäftlich zu bewegen oder gar seinen privaten Lebensmittelpunkt zu suchen.